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Die Konzeptkunst hat die Zeichnung als eigenständige primäre Arbeitsform entdeckt und als bedeutende zweidimensionale Technik genutzt. Die Zeichnung auf Papier und auf der Wand wurde eine der Malerei oder Skulptur gleichwertige Darstellungsweise. Mehr noch, mit ihren Möglichkeiten des Kritzelns, Skizzierens, der Notation, der ecriture automatique, ihrer Verschränkung von Schrift und Bild oder der diagrammatischen Darstellung wurde die Zeichnung als eine Aufzeichnungs- und Entwurfstechnik erkannt, die sich zur Kommentierung von Realität wie zur modellhaften Erfindung von Welten gleichermassen eignet.

Mit Hanne Darboven und Irene Weingartner präsentiert SCHAU ORT zwei Positionen, welche die Möglichkeit von Zeichnung als Forschungsinstrument deutlich machen. Während Hanne Darbovens Untersuchungsgegenstand die Geschichte und Kultur ist, konzentriert sich Irene Weingartner auf Prozesse, die einer diskursiven Vermittlung entgehen; sie registriert zeichnend Signale des Körpers und der Umgebung. Auf der Phänomenebene werden Unterschiede evident: Die feinsäuberlichen Schreibarbeiten auf DIN A4 Blättern Hanne Darbovens orientieren sich in ihrer linearen Aufzeichnung und Abschrift von oben nach unten am Format des Buches. Regelmäßigkeit, Ordnung, Wiederholung, System, Kontrolle, Fleiss, Uniformität sind Begriffe, die diese Bildsprache, die Hanne Darboven selbst als „mathematische Prosa“ und als „wirkliches Schreiben“ bezeichnet hat, charakterisieren können. Dagegen scheinen musikalische, architektonische oder topografische Begriffe geeignet, um den visuellen Eindruck der Zeichnungen Irene Weingartners anzuzeigen. Manche vermitteln eher einen Klang – hervorgerufen durch wellenförmige (Noten-)Linien –, andere Blätter erinnern verstärkt an Visualisierungen des Universums, an topografische Karten oder aufgrund von Parallel- und Kreuzschraffuren an technische Zeichnungen.

Atta Troll von 1988 gehört zu den kulturgeschichtlichen Arbeiten Hanne Darbovens. In diesen kombiniert sie häufig ihre wortlose Wellen-Schrift, welche den Akt des Schreibens selbst akzentuiert, mit handschriftlichen Exzerpten publizierter literarischer, philosophischer oder historischer Werke. Ihre Datumsberechnungen, deren Übertragung in Noten, ihre handschriftlich kopierten Texte und wortlosen Wellen-Schriften stellen einen Akt des Schreibens dar, der als Geschichte des Schreibens verstanden werden kann, als Modell für die Geschichts-Schreibung im allgemeinen.

Während Hanne Darboven um die Zeichnung als Forschungsinstrument zu nutzen und sie als ein Erkenntnis produzierendes und Erkenntnis vermittelndes Medium kenntlich zu machen objektivierende Strategien wie Gesetzmäßigkeit und Reproduzierbarkeit einsetzt und ihr Tun einem seriellen System unterwirft, scheint Irene Weingartner geradezu gegenteilige Methoden aufzusuchen: Auch wenn es Werkserien gibt, so arbeitet sie dennoch nicht seriell. Es geht nicht um die Reproduzierbarkeit, sondern jedes Blatt behauptet einen singulären Charakter. Gleichwohl entwerfen auch ihre Arbeiten ein Modell der Wirklichkeitserfassung. Irene Weingartner unterwirft sich dabei keinem System, sie negiert jedoch – Darboven vergleichbar – die Zeichnung als blossen subjektiven authentischen Ausdruck. Anstelle von Kontrolle und einem linearen Nacheinander von Intention und Materialisierung lässt sie ein komplexes Zusammenspiel zwischen Empfindung, Material und Denken, zwischen Signal, Bleistift, Körper, Geist und Papier möglich werden. Die Künstlerin erstellt dementsprechend jedes Blatt am Zeichentisch auf Rollenpapier in Partien, so dass ein Überblick über das gesamte Format nur dann möglich ist, wenn das Blatt an die Wand gehängt wird. Durch dieses methodische Vorgehen macht sich Irene Weingartner – dem Blatt, dem Bleistift oder der Tusche vergleichbar – zum Medium der Aufzeichnung. Das Auge als Instanz der Vernunft, der Evidenz, der Empirie, der Wahrscheinlichkeit, der Koordination, Imitation und Kontrolle wird geschwächt, um die Signale der Umgebung oder des Körpers seismographisch aufzuzeichnen.

Der wortlosen Schrift Hanne Darbovens vergleichbar, die keine historische Zeit in Erinnerung bringt, sondern lesbar wird als Spur eines Prozesses und einer gelebten tatsächlichen Zeit, entspringen die Linien der Aufzeichnungen Irene Weingartners insofern keinem vorgestellten Bild, auch keinem Vorbild, sie zeichnen auf, spüren nach, bilden Spuren – gezeichnete Linien. Irene Weingartner und Hanne Darboven zeichnen und schreiben Linien, die in je unterschiedlicher Weise das Medium Zeichnung als Instrument der modellhaften Interpretation, der kritischen Aufzeichnung und der aktiven Kommentierung von Realität sichtbar werden lassen.

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Linie 2,3,4
Zeichnungen von Hanne Darboven und Irene Weingartner

Kuratorin: Elke Bippus