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Living Archives
Kooperation Van Abbemuseum
Kuratoren: Eva Birkenstock, Yilmaz Dziewior, Galit Eilat

Was ist ein Archiv? Was ist eine Sammlung? In welchem Verhältnis stehen Dokumente aus Archiven bzw. Objekte einer Sammlung zu Erinnerung, Identität, Geschichte und Politik? Was für Erzählungen werden festgeschrieben, welche alternativen Lesbarkeiten können eröffnet werden? Ausgangspunkt der Kooperation mit dem Van Abbemuseum in Eindhoven bildet ein gemeinsames Nachdenken über die Bedeutung von Archiven und Sammlungen – Fragestellungen, die im aktuellen Diskurs über zeitgenössische Museumspraktiken von großer Bedeutung sind. Im Rahmen des Projektes werden künstlerische sowie kuratorische Strategien vorgestellt, die individuelle, fragmentarische Kunst-Geschichten, Archive und Sammlungen entwerfen, um den etablierten Kanon zu unterlaufen und alternative Lesarten freizulegen. Neben der Präsentation Living Archive – Mixed Messages des Van Abbemuseums, die Arbeiten von Francis Bacon, Robert Indiana und Paul McCarthy umfasst, werden anhand der künstlerischen Arbeiten von Michal Heiman, Hannah Hurtzig (beide aus der Sammlung des Van Abbemuseum) und Katrin Mayer offenere, prozessuale Strategien des Sammelns, Archivierens und der Präsentation gesammelter Materialien vorgestellt. Angesichts des Unvermögens vieler Institutionen,das Nebeneinander verschiedener, den jeweiligen Sammlungen inhärente Geschichten darzustellen, begaben sich die eingeladenen Künstlerinnen selbst auf die Suche nach historischen Materialien und Verweisen.

Ein von Katrin Mayer entworfenes Setting aus Vorhang- und Wandelementen eröffnet veränderbare Raumsegmente für die künstlerischen Beiträge, die Präsentation des Van Abbemuseums sowie für die das Projekt begleitenden Veranstaltungen. Bezug nehmend auf die Thematik des Archivs, erzeugen die transparenten Vorhänge Bewegungen im Raum, die weder ein Zentrum noch eine linear strukturierte Richtung vorgeben. Ähnlich wie Archive nicht ohne das Einwirken von einem Außen gedacht werden können, wird durch das durchsichtige Material eine Unterscheidbarkeit von Innen und Außen relativiert und auf die Notwendigkeit des Zusammenwirkens beider Bereiche hingewiesen. Ausgehend von den Publikationen des Kunsthaus Bregenz hat Katrin Mayer eine weitere Arbeit für die KUB-Arena entwickelt. Im Prozess des „Quer-Lesens“ des am Kunsthaus-Tresen befindlichen „Ausstellungsarchivs“ hat sie unterschiedliche Text- und Bildfragmente aus den Büchern des KUB kopiert und zu einer Formulierung verwoben, die neue Lesbarkeiten der Materialien erzeugt und Bedingungen von Sichtbarkeit inszeniert und befragt. Die gewählten Motive und Erzählungen stehen dabei in Bezug zu dem Ort, an dem sie gezeigt werden, und können im weitesten Sinne auch als Verweise auf archivarische Vorgehensweisen gedeutet werden.

Begleitet wird die Präsentation von einer Auswahl an Materialien und Kunstwerken aus dem Projekt Living Archive – Mixed Messages, Teil einer von Diana Franssen kuratierten Ausstellungsserie, die in wechselnden Formaten und unterschiedlicher Dauer im Van Abbemuseum stattfand. Mixed Messages nähert sich aus verschiedenen Blickwinkeln drei ausgewählten Kunstwerken der Sammlung des Museums an und visualisiert unter Rückgriff auf Archivdokumente, wie und warum bestimmte Arbeiten in die Sammlung aufgenommen, wie oft sie ausgestellt wurden und wie sich die Rezeption jeweils veränderte. Jedes Kunstwerk ist beeinflusst von sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren und stellt somit ein Medium der gegebenen Ideologien dar wie auch der nationalen Identität. Die thematischen Kontexte, in dem die Arbeiten von Francis Bacon, Robert Indiana und Paul McCarthy gezeigt werden, ermöglichen es, über ihre kunstimmanente Bedeutung hinaus die Kunstwerke auch als Ergebnis von bestimmten sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren zu betrachten.

Ab dem 22. Februar 2011 wird das Projekt um die Arbeiten Heiman Test — Experimental Diagnostics of Affinities von Michal Heiman und Flight Case Archive von Hannah Hurtzig erweitert, die schließlich den Besucher selbst auffordern, mit Archivmaterialien umzugehen bzw. die Unmöglichkeit einer eindeutigen Lesbarkeit von Archivmaterialien zu „erfahren“.

Für Michal Heiman ist Kunst ein Rechercheprozess. Nachforschungen über psychologische Experimente führten sie zu dem sogenannten Szondi- Test. In diesem in den 1940er Jahren erstmals veröffentlichten diagnostischen Test des ungarischen Psychiaters Leopold Szondi wurden Probanden gebeten, auf Fotografien von Psychatrie-Patienten zu reagieren – diejenigen auszuwählen, die sie mochten, und diejenigen, die ihnen nicht gefielen. Szondi glaubte, dass ihre Reaktionen als Schlüssel zu ihrer Psyche dienen können. Heiman verwendete Szondis Strukturen, um ihren eigenen, während der Ausstellung durchzuführenden Test zu erstellen. Im Heiman Test — Experimental Diagnostics of Affinities werden statt Patientenporträts Fotografien verwendet, die Heimans eigenem Archiv und ihrem (erweiterten) Familienalbum entnommen sind.

Die Regisseurin Hannah Hurtzig wird wiederum ihr Flight Case Archive präsentieren: ein mobiles, seit 2004 kontinuierlich wachsendes audiovisuelles Archiv in Form eines Koffers, in dem die Besucher Platz nehmen können. Das FCA sammelt „Erzählungen von Orten, Städten und Territorien“ in Dialogen zwischen zwei Experten, zwischen Berater und Klient oder zwischen Autobiograf und Zuhörer. Alle Gespräche wurden in den verschiedenen Installationen der Mobile Academy live aufgezeichnet (u.a. Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nichtwissen), in denen Wissen und Information als Kommunikationsakt und Ergebnis von Verhandlungen inszeniert werden. Expertenwissen, theoretische Diskurse und biografische Erzählungen verbinden sich zu einer öffentlichen Kartografie von Gedächtnis, Raum und Rhetorik. Unter Bezugnahme auf die vorgestellten künstlerischen und kuratorischen Strategien sowie auf in Bregenz ansässige Archive werden im Rahmen des Projektes gegenwärtige archivarische Praktiken zur Diskussion gestellt sowie Möglichkeiten der Errichtung eines Archivs im Kunsthaus Bregenz erörtert.

In enger Zusammenarbeit mit Charles Esche (Direktor, Van Abbemuseum) und Galit Eilat (Kuratorin, Van Abbemuseum)