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Diese Epochenschau spannt einen zeitlich weiten Bogen von jenen Bildern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, welche bereits vor der eigentlichen L’art-pour-l‘art-Bewegung die Décadence als kulturelles Phänomen thematisierten, über die literarische Pariser Diskussion der 1850-80er Jahre bis hin zur deutschen Malerei und Bohème des Impressionismus und Symbolismus. Inwieweit die Malerei dabei auf eine in ihrer Ausstrahlung unterschiedlich hoch bewertete literarische Avantgarde reagierte, inwieweit sie eigenständig neue Wege beschritt, wird diese Ausstellung anhand thematisch genau fokussierter Werke aus dem In- und Ausland verdeutlichen.

In Paris galt Theophile Gautiers Vorwort zu Mademoiselle de Maupin (1835) als Manifest für den später zum Slogan erhobenen Ruf „L’art pour l’art“. Damit war bereits eine Ebene geschaffen, auf welcher sich die Décadence-Thematik entfalten konnte. Ab 1857 publizierte Charles Baudelaire seine Gedichtfolge Fleurs du mal. Erst diese Gedichte gelten als zentrales literarisches Werk der Décadence-Bewegung. Doch in der Malerei hatte Thomas Couture bereits 1847 mit dem großformatigen Skandalbild La décadence des romains (Die Römer der Verfallszeit) einen anderen, historisierenden Weg eingeschlagen. In Deutschland wurden Couture und seine Schüler, allen voran Anselm Feuerbach, durch die erste internationale Kunstausstellung 1869 in München bekannt. Ein Jahr zuvor zeigte bereits Hans Makart mit Die Pest in Florenz (Decamerone), dass er die neue Ebene erkannte und den gleichen Pfad einzuschlagen gewillt war.

Die Umsetzung der Décadence-Gedankenwelt in Malerei und Literatur verlief weder auf parallelen Wegen noch in beiden Ländern gleichzeitig. Dabei ist die gemeinsame Thematik, die Suche nach historischen Helden bzw. Antihelden als Prototypen einer neuen Gesellschaft auffallend. Unter diesem Aspekt werden sowohl der Einsatz mythologischer Figuren, z.B. Bacchanten und Satyrn, als auch historische Personen, z.B. die biblische Salome mit dem Kopf des Johannes, verständlich.

Die Décadence-Bewegung, von Max Nordau 1892 mit Degeneriertheit gleichgestellt und als „Entartung“ bezeichnet, wurde später von den Nationalsozialisten auf die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts bezogen, doch sie erblühte bereits 60 Jahre zuvor in spätklassizistischen und historistischen Werken. Undifferenziert der seichten Salonmalerei zugeordnet, galt das Laszive, Amoralische, Erotische als ihr Kennzeichen. Noch heute wird sie eher unter dem Banner des Erotischen agierend verstanden. Gewollt war jedoch eine Abwendung vom Diktat gesellschaftlicher Normen im Bewusstsein einer Zeitenwende.

Die frühen Historienbilder von Couture, Piloty, Makart und Feuerbach in ihrer mitunter als schwül empfundenen Thematik bergen eine inhaltliche Revolution: „Wenn Gesellschaften zutiefst erschüttert sind, wenn es keine Lehren, keine Schulen mehr gibt und die Kunst zwischen einer verlorenen und einer sich erst neu am Horizont abzeichnenden Tradition steht, dann finden sich besondere „Décadents“ ein, wundersame, freie, reizvolle Abenteurer der Linie und der Farbe“ notierten die Brüder Goncourt 1859. Die Libertinage diente dabei nur als Provokation bürgerlicher Moralvorstellungen. 1921 nannte Eckart von Sydow in Die Kultur der Dekadenz den „Weltschmerz“ des Künstlers als eigentlichen Ausgangspunkt.

In chronologischer und thematischer Hängung wird in der Ausstellung verdeutlicht, dass Teile der deutschen Malerei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur auf die von der damaligen Kunstkritik geforderten Aufgaben der Kunst als Schulung des ästhetischen Bewusstseins (Schiller) reagierten, sondern dass auch ein weiteres Aufgabenspektrum befolgt wurde: die Bildende Kunst als pädagogische Mittlerin von Religion und Ethik. Hier sollen in der Ausstellung Gegenüberstellungen kontrastierender Werke den Wandel in der sittlichen Auffassung aufzeigen.

In den deutschen Verfalls-Diskussionen wurde das Thema „Untergang und Verfall“ weniger auf einen geschwächten Staat oder ein Staatsvolk als auf die kulturellen Werte einer im Glauben nicht ausreichend gefestigten Gesellschaft bezogen. Bildlich konnte dazu die ältere Tugend-Diskussion instrumentiert werden, welche den Kanon von Sünden und Lastern zur Veranschaulichung ihrer Ziele benötigte. Dazu traten Szenen auf der Grundlage der italienischen Mittelalter- und Renaissance-Literatur (Dante, Ariost, Aretin, Boccaccio). Der Untergang der Zivilisation wurde auch mit der Hölle in Beziehung gesetzt.

Es bildete sich also eine aus unterschiedlichen europäischen Quellen gespeiste Bildwelt vom moralischen Verfall einer Gesellschaft.

Auch die zum akademischen Programm gehörenden Aktdarstellungen wurden erotisch „aufgeladen“, alles in dem Bewusstsein, dass solche Werke beim Betrachter einen (a)moralischen Affekt auslösen konnten und sollten und schon deshalb auf dem Kunstmarkt besser verkäuflich waren. Doch erst Hans Makart (1840-1884) und seine Nachfolger übernahmen den im Pariser Salon bereits bekannten Effekt der bewussten Skandalerzeugung. Lovis Corinth folgte ihm darin.

Im Kern hatte die Decadence-Bewegung von Anfang an eine Gemeinsamkeit – und dies ist die Hauptthese dieser Ausstellung: dass sich immer mehr Künstler gegen die Rezeption ihrer Werke, ja der Kunst allgemein, unter pädagogischen Aspekten wandten, ganz gleich ob in der Literatur oder in der Bildenden Kunst. Das Fin de Siècle um 1900 war damit nicht der eigentliche Höhepunkt, sondern die Spätblüte einer langanhaltenden Diskussion mit ihrem neuen Blick auf das Ungewöhnliche, Unmoralische, Unnatürliche.

Die Sammlung Georg Schäfer bietet für das Aufzeigen dieser auch rezeptionsgeschichtlich interessanten Thematik einen singulären Anknüpfungspunkt. Angefangen mit religiös geprägten und die gesellschaftliche Untergangsdiskussion beflügelnden Darstellungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts können mit zentralen Gemälden und Zeichnungen im Sammlungsbestand viele Themen einer Autonomiebestrebung verdeutlicht werden, welche sich parallel zu Frankreich entwickelte.

Die ausgestellten Werke reichen von Josef Anton Koch, Franz Nadorp, Ludwig Schnorr von Carolsfeld, Carl Gottlieb Peschel über Thomas Couture, Anselm Feuerbach, Hans Makart, Carl Theodor von Piloty, Wilhelm von Kaulbach, Eduard von Grützner und Ferdinand Keller, Hugo von Habermann, Ludwig von Hofmann, Albert von Keller, Max Slevogt, Franz von Stuck, Wilhelm Volz, Wilhelm Trübner, Leo Putz, Otto Greiner, Gustav Klimt, Max Klinger bis zum ausgelassen feiernden Bacchantenpaar von Lovis Corinth. Hauptwerke des deutschen Historismus, Impressionismus und Symbolismus sollen unter diesem thematischen Aspekt beleuchtet und neu interpretiert werden.

Die Antrittsausstellung von Dr. Wolf Eiermann umfasst ca. 50 z.T. großformatige Gemälde, darunter internationale Leihgaben, 50 hervorragende Arbeiten auf Papier sowie eine Auswahl an Bohème-Literatur der Zeit. Die Ausstellung wird u.a. von einem Katalog mit Beiträgen bekannter wissenschaftlicher Fachkollegen begleitet.