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In einer umfassenden Retrospektive gibt das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MKG) erstmals einen Überblick über das Schaffen der Fotografin Madame d‘Ora (1881-1963) und nimmt eine Neubewertung ihres Werkes mit besonderem Schwerpunkt auf dem Nachkriegswerk vor. Über 30 Jahre nach der ersten Monografie, die d’Oras Wirken als Gesellschaftsporträtistin beschreibt, erlauben neue Erkenntnisse andere Zugänge zu ihrem Werk. In den Vordergrund rücken das persönliche Umfeld der Fotografin und die teils radikalen Auswirkungen der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Veränderungen auf ihr Schaffen. Neu eingesehenes Material aus ihrem schriftlichen Nachlass und zahlreiche neu entdeckte Fotografien geben Aufschluss über ihre Wurzeln im jüdischen Wiener Bürgertum, ihre lange Freundschaft mit Maurice Chevalier und der Pariser Modistin Madame Agnès sowie über die vielschichtige Arbeit für den Ballettimpresario Marquis de Cuevas. Die Ausstellung versammelt rund 170 fotografische Arbeiten aus der Sammlung des MKG, der Sammlung Bonartes, Wien, der Sammlung des Ullstein Verlags und aus Privatsammlungen. Gezeigt werden zudem Modeobjekte aus dem MKG, dem Wien Museum und der Universität für angewandte Kunst Wien. Die Ausstellung entsteht in Kooperation mit dem Photoinstitut Bonartes, Wien.

Wer sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Madame d‘Ora porträtieren lässt, verleiht seiner Person einen Hauch französischer Eleganz. Von 1910 bis in die 1930er Jahre inszeniert Madame d’Ora die Wiener und Pariser Gesellschaft und die Künstlerbohème. Sie fotografiert Schriftsteller wie Arthur Schnitzler, die russische Primaballerina Anna Pawlowa, die skandalumwitterte Nackttänzerin Anita Berber, Josephine Baker und Größen der Modewelt wie Coco Chanel und Madame Agnès. Die Bilder aus dem Atelier d’Ora spiegeln den Anspruch der Abgelichteten auf einen Platz in der Welt der schönen, gebildeten und berühmten Menschen. Durch die äußerst erfolgreiche Kooperation mit Bild- und Zeitschriftenagenturen erreicht Madame d’Ora eine breite Öffentlichkeit. Ihre Porträts und Modefotografien zeigen den Übergang von aristokratischen Idealen zu einem Bild von der „neuen Frau“, welches von der Welt des Theaters und Films geprägt ist, die sich in einer sich rasant entwickelnden Zeitschriftenkultur verbreitet. Während des nationalsozialistischen Regimes verschlechtert sich die Auftragslage der jüdischen Fotografin zunehmend. 1942 flüchtet sie vor der Deportation in ein Bergdorf in der Ardèche. Zurück in Paris nimmt sie 1945 die Porträtfotografie wieder auf. Doch das Unfassbare hinterlässt Spuren: Madame d’Ora wendet sich den Opfern der Gesellschaft und des Krieges zu und fotografiert in österreichischen Flüchtlingslagern und Pariser Schlachthäusern.

Das Atelier d’Ora – Künstlerische Bildnisse und Charakterportäts
1907 eröffnet d’Ora im Alter von 26 Jahren in Wien ein Porträt-Atelier, das von der Wiener Bohème bereits im ersten Jahr regelmäßig besucht wird. Sie fotografiert die Kulturkritiker Hermann Bahr und Karl Kraus sowie den Maler Gustav Klimt. Vor ihrer Kamera stehen die österreichische Tänzerin und Choreografin Grete Wiesenthal, die Modeschöpferin Emilie Flöge und zahlreiche weitere Protagonisten der Wiener Gesellschaft. 1917 begleitet d‘Ora als etablierte Porträtistin die Krönungsfeierlichkeiten von Kaiser Karl zum König von Ungarn mit der Kamera.

Arbeit für die illustrierte Presse
Seit Mitte der 1910er Jahren arbeitet Madame d‘Ora als eine der ersten Modefotografinnen Wiens für den sich rasant entwickelnden Markt der Illustrierten. Ihre Fotos erscheinen etwa in Sport und Salon (Wien, ab 1910) und Die Dame (Berlin, ab 1916), in der Kulturzeitschrift Uhu (Berlin, ab 1924) und in Das Magazin (ab 1925). Ein Großteil ihrer gedruckten Porträts zeigt Damen der höheren Gesellschaft und glamouröse Schauspielerinnen. Die Vorlagen, die d‘Ora an die Agenturen liefert, prägen das neue Bild der Frau mit Bubikopf, Zigarette und seidenbestrumpftem Bein, das in den gerade erfundenen, gehobenen Lifestyle-Magazinen entworfen wird.

Diese Aufnahmen sind selten Modefotografien mit Nennung des Modeschöpfers zur Präsentation von Kollektionen. Die fotografierten Stars dienen vor allem der modischen Orientierung. Erste dezidierte Modefotografien entstehen 1909 im Auftrag der Wiener Modehäuser Zwieback und Decrole, für den Salon der Schwestern Flöge und für die Wiener Werkstätten. Ab 1925 zählt die Modefotografie zu d’Oras Hauptgeschäft. Sie erstellt für das französische Publikationsorgan der Modeindustrie L’Officiel de la Couture zahlreiche Aufnahmen von Lanvin, Edward Molyneux, Louis Bourbon, Lucile Pasay oder Madame Agnès. Die Arbeiten kann sie auch auf dem deutschen Zeitschriftenmarkt unterbringen, wo die Mode in Frankreich noch immer als stilprägend gilt.

Die Ausstellung zeigt eine Auswahl von Veröffentlichungen, die den Schwerpunkt und das Themenspektrum von d’Oras Bildberichten in deutschen und österreichischen Zeitschriften spiegelt. Interessanterweise liefert sie nicht nur die Bilder, sondern verfasst auch eine Vielzahl von kurzen, essayistischen Texten, häufig mit ironischem Unterton. Sie bezeugen die Prominenz der Fotografin, die nicht mehr nur als anonyme Bildlieferantin für massenhaft reproduzierte Fotografien angesehen wird, sondern selbst zur Persönlichkeit aufsteigt.

Die Nachkriegszeit Der Zweite Weltkrieg setzt eine radikale Zäsur in Madame d‘Oras Werk. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris 1940 kann sie nur noch sehr eingeschränkt arbeiten, schon ab 1935 werden ihre Bilder deutlich weniger gedruckt. Nach dem Verkauf ihres Ateliers hält sie sich von 1942 bis 1945 in Südfrankreich versteckt, um der Deportation zu entgehen. In der Nachkriegszeit arbeitet sie weiterhin als Porträtistin für die High Society und die Künstlerszene. Aber ihre traumatischen Erlebnisse während des Nationalsozialismus, der Tod ihrer Schwester im Konzentrationslager und die Zeit im Versteck in Südfrankreich verändern den Blick der Fotografin entscheidend.

Österreichische Flüchtlingslager 1946/48
Die Ausstellung konzentriert sich auf drei Themen in d’Oras Spätwerk. 1946 und 1948 dokumentiert sie in Wien und Salzburg das Schicksal von Flüchtlingen, vermutlich im Auftrag der UNO. Ihre Arbeit zeigt dabei weniger die sozialen Umstände der längst nicht mehr provisorischen Lager. Mit ihren Porträts beschreibt sie vor allem das individuelle Schicksal einzelner Menschen. Dabei unterscheidet sie die „Displaced Persons“, wie sie damals bereits genannt werden, nicht in jüdische oder deutsche Aussiedler und Flüchtlinge, sondern fotografiert deutschsprachige Vertriebenen aus Ost-und Südosteuropa und jüdische Flüchtlinge gleichermaßen. Besonders interessiert sie das Schicksal bestimmter Gruppen: alte Menschen, Kinder und im Flüchtlingslager untätige Männer.

Die Brüchigkeit des Schönen
Die Serie um den Marquis de Cuevas zeigt auf, wie sich der Fokus im Werk d’Oras in dieser Zeit verschiebt. Dem schönen Anschein und dem Glamour, die sie so oft fotografiert hatte, stellt sie das Vergängliche gegenüber und macht die Brüchigkeit sichtbar. So zeigt sie den alternden und gebrechlichen Ballett-Impressario Marquis de Cuevas im Rollstuhl, umringt von jungen und schönen Tänzerinnen. Das Motiv des Morbiden findet sich auch in ihren neuen Porträts. Den Literaten William Somerset Maugham, die Schriftstellerin und Journalistin Colette und den Chansonier und Schauspieler Maurice Chevalier zeigt sie als gealterte Menschen mit zerfurchten Gesichtern im Bett liegend.

Pariser Schlachthöfe, 1949 und 1956/57
Die wohl verstörendste Serie schafft d‘Ora 1949 und zwischen 1956 und 1957. Hier fotografiert sie Tierkadaver im Abattoir Ivry Les Halles und im Abattoir Rue Brancion, den Schlachthöfen von Paris. D’Ora entwickelt zwei unterschiedliche Zugänge: Während es sich bei Aufnahmen von 1949 um vermehrt surrealistische Inszenierungen einzelner Körperteile von Tieren handelt, zeigen die Fotografien aus den 1950er Jahren eher dokumentierende Eindrücke des Schreckens. In beiden Phasen, die schonungslos die brutale Praxis der Schlachthäuser offenlegen, legt d’Ora einen Schwerpunkt auf den Bildausschnitt, auf fragmentarische Details und die Texturen der tierlichen Überreste. Die Serie zeigt das Morbide so als gleichzeitig grausige wie ästhetische Komposition. Sie ist in der Literatur als künstlerische Reaktion auf die Gräuel des Krieges verstanden worden.

Biografie
Madame d’Ora wird als Tochter eines Wiener Hofgerichtsadvokaten in eine wohlhabende jüdische Familie mit dem bürgerlichen Namen Dora Philippine Kalmus hineingeboren. Nach ihrer Ausbildung an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien absolviert sie bei dem Fotografen Nicola Perscheid in Berlin ihre Lehrzeit. 1907 eröffnet sie mit ihrem Geschäftspartner Arthur Benda (1885-1969) ein eigenes Atelier in ihrer Heimatstadt Wien. Von 1921 bis 1926 unterhält sie ein Sommer-Atelier im Kurort Karlsbad und eröffnet 1925 ein Studio in Paris. 1926/27 trennen sich ihre und Bendas Wege. D’Ora siedelt nach Paris über und führt nur das dortige Studio weiter. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Paris 1940 muss sie fliehen und hält sich in Südfrankreich versteckt. 1959 findet ihre Laufbahn nach einem Unfall ein abruptes Ende, 1963 stirbt sie im Alter von 82 Jahren in Frohnleiten in der Steiermark.

Ein Großteil des Nachlasses der Fotografin befindet sich im MKG. Neben ca. 500 Original-Abzügen umfasst er Negative und Kontaktbögen sowie den Schriftwechsel und das Kundenbuch ihres Ateliers. Die Ausstellung nimmt eine Neuverortung der Fotografin vor, stützt sich auf neu eingesehenes Material aus Bildagenturen, setzt d‘Oras Werk in den Kontext der Veröffentlichungen und wird ergänzt durch internationale Leihgaben von öffentlichen österreichischen Institutionen und Privatleihgebern.

Die Ausstellung wurde gemeinsam mit dem Photoinstitut Bonartes, Wien, entwickelt. Sie wird im Anschluss im Leopold Museum, Wien (13.7. – 29.10.2018) und in der Neuen Galerie Museum for German and Austrian Art, New York, gezeigt. Die Kuratorinnen der Ausstellung in Hamburg sind Esther Ruelfs und Cathrin Hauswald (MKG), für das Leopold Museum Monika Faber und Magdalena Vuković (Photoinstitut Bonartes).

Katalog: Es erscheint ein Katalog mit dem Titel Madame d’Ora. Machen Sie mich schön! Hg. von Monika Faber, Esther Ruelfs undMagdalena Vuković, mit Beiträgen u.a. von Andrea Amort, Christian Brandstätter, Monika Faber, Jean-Marc Dreyfus, Cathrin Hauswald, Sylvie Lécallier, Peter Schreiner, Esther Ruelfs, Aenne Soell, Katharina Sykora, Magdalena Vuković u.a., 355 Seiten, Brandstätter Verlag, Buchhandelsausgabe 49,90 Euro, Museumsausgabe 39,90 Euro.