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Der 1991 an Originalschauplätzen gedrehte Spielfilm „Boyz n the Hood“ sollte ein möglichst realistisches Bild der Straßengangs im berüchtigten Stadtteil South Central in Los Angeles liefern. Der Regisseur John Singleton heuerte nicht nur den Rapper Ice Cube für eine der Hauptrollen an, sondern auch drei Gangmitglieder, um deren Insiderwissen für die glaubwürdige Inszenierung der Kleidung und der Dialoge zu nutzen.

Wann immer eine filmische „Fiktion“ sich einer „Realität“ getreu anzunähern sucht, stellt sich auch die Frage, inwieweit das, was wir als „Realität“ akzeptieren, nicht bereits eine Kopie der Bilder und Vorstellungen ist, die durch Kino und Fernsehen geprägt sind. Amerikanische Kriminalfilme und –serien spielen häufig in Stadtvierteln, von deren Besuch Touristen eher abgeraten wird, und so hat man ein Bild davon, wie es dort aussehen und zugehen könnte, ohne sich jemals selbst hingetraut zu haben. So sollen sich angeblich auch Mitglieder der italienischen Camorra an der Fernseh-Serie „The Sopranos“ orientieren, um zu lernen, wie sich „echte“ Mafiosi verhalten.

Mit der Schwierigkeit, „authentische“ und Film-Realität überhaupt noch voneinander zu unterscheiden, spielt Mirko Martin (*1976) in seiner Fotoserie „L. A. Crash“. Die Aufnahmen, mit denen er während eines Auslandsstudiums am Cal Arts 2005/06 begann, entstanden sowohl in Downtown Los Angeles als auch an berühmten Filmsets in Hollywood. Was „real“ ist und was inszeniert, lässt sich auch bei gründlichem Studium der Fotos kaum ausmachen. Hat der Künstler eine Festnahme vor einem geschlossenen Supermarkt zufällig mit der Kamera eingefangen oder ist die Situation mit Statisten gespielt? Was geschieht auf dem Gewerbehof, auf dem vorn ein Polizeiwagen mit offener Tür steht und Licht wie von einem Scheinwerfer schräg hineinfällt? Oder handelt es sich hier um ein Studiogelände? Wird ein Film gedreht oder befinden wir uns gleichsam „Backstage“ an den Zufahrtswegen der Transportfahrzeuge? Wäre das Foto „Firmengelände, Ruhrgebiet“ betitelt, würde man es vielleicht auch glauben.

Die Filme des in Bochum geborenen Martin Brand (*1975) folgen, verglichen mit Mirko Martins bewusster Irritation der Grenze zwischen Realität und filmischer Fiktion, einem deutlich dokumentarischeren Impetus. Brand sucht den Kontakt zu Jugendlichen, die er in ihren Milieus aufsucht und porträtiert. Oft wählt er lange Einstellungen und bittet die Jugendlichen, so lange wie möglich in die Kamera zu schauen. Etwa achtzig solcher „Videoporträts“ aus der Bochumer Bahnhofsszene machte er für die Videoinstallation „Pit Bull Germany“. Parallel dazu entstand der in der Ausstellung gezeigte Film „Station“ (2005), der spontaner und beiläufiger wirkt als andere Filme Brands. Hier folgt er einer Clique mit der Kamera vom Bahnhofsplatz in die U-Bahn und in die Wohnung und nimmt dabei ihre Aktivitäten, Gespräche und Aggressionen auf. Je länger man zusieht und zuhört, desto unklarer wird die „Identität“, der die Gruppe folgt. Schon bei der Kleidung stellt sich die Frage, ob man es mit linken Anarchos oder Sympathisanten einer rechten Szene zu tun hat. Es wird auch Musik von Bands gehört, die bei Neonazis beliebt sind, wie „Landser“ oder „Böhse Onkelz“. Links oder rechts, Punk oder Skin: die Unklarheiten in der eigenen Zuordnung werden zwar im Gespräch der Jugendlichen beiläufig thematisiert, lösen sich aber im Eindruck einer allgemeinen Orientierungslosigkeit auf, die das scheinbar ziellose in den Tag hinein Leben und einfach nur „Dagegensein“ der Clique vermittelt Wie hätten Mitglieder dieser „Gang“ einen Filmregisseur beraten, um einen authentisch wirkenden Spielfilm des Bochumer Bahnhofsmilieus machen zu können? Könnten sie ihre Codes überhaupt benennen?

Wenn auch unterschiedlich akzentuiert, befragen Mirko Martin und Martin Brand das Verhältnis zwischen Realität und Fiktion, zwischen Künstlerischem und Dokumentarischem, zwischen Spontaneität und Inszenierung und erzeugen damit ein ähnliches Spannungsfeld, wie es sich in den 1980er Jahren zwischen Nan Goldins Credo „I photograph directly from life“ und Jeff Walls mit zahllosen Referenzen bespickten, filmsetartig inszenierten Bildern auftat. Auch wenn uns frivole postmoderne Simulationstheorien heute nicht mehr erschüttern können: Die Frage nach der „Echtheit“ der Bilder, nach ihrer Aussagekraft über das, was wir Realität nennen, hat sich längst noch nicht erledigt.

Ludwig Seyfarth