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Michael Reisch. Post-Photographic-Prototyping
16.09.2018 bis 25.11.2018

Ausstellungseröffnung Sonntag, 16. September 2018, 12.00 Uhr
Einführung: Peter Friese
Der Künstler ist anwesend

Nimmt man das Kompositwort „Photo-Graphie“ wörtlich, dann wird mit Licht geschrieben. Wer aber ist es, der da schreibt und was wird geschrieben? Sind es die Dinge selbst, die sich mit Hilfe des Objektivs und des Lichts in die Emulsion des Films oder seit der Einführung digitaler Bildverfahren in den Datenspeicher der Foto-Apparatur einschreiben?

Oder ist es in erster Linie der Fotograf, der mit seinem Können und seiner Autorenschaft dem Bild seine ganz persönliche Handschrift verleiht? Der Streit darüber, was ein Foto ist und wer oder was es zustande bringt, ist so alt wie das Medium selbst.

In dieser nicht enden wollenden Debatte wird bisweilen der Fotografenschule, durch die auch Michael Reisch geprägt worden ist, nachgesagt, dass sich in erster Linie die Dinge, die sich einmal vor dem Objektiv befunden haben 1:1 im Bild wiederfinden lassen, was einer totalen Verkürzung oder sogar einem kompletten Missverständnis gleichkäme. Denn der Eigenanteil des Fotografen beim Zustandekommen seiner Bilder, die Entscheidungen bei der Bildbearbeitung, die zunehmende Anwendung neuester Technologien und computergestützter Bildverfahren stellen seit einigen Jahren wesentliche Komponenten der Foto-Bildgenese dar.

Die Frage also, was ein Foto ist und was es sichtbar macht, lässt sich heute nicht mehr in einem kurzen Satz beantworten: Die technischen Neuerungen immer avancierterer Bildgebungsverfahren gehen weiter und weiter, ein Ende ist vorerst noch nicht abzusehen. Die Einbeziehung sogenannter künstlicher Intelligenz bei der Generierung verblüffend glaubhafter Bilder und die Möglichkeit mit der Fotografie in die dritte Dimension zu gehen, stehen vielleicht erst am Anfang, doch führen sie bereits jetzt zu einer spürbaren Veränderung unserer Beziehung zum Bild als Abbild.

Wir können - nicht erst seit dem verkündeten Zeitalter der „alternative facts“ - fotografische Bilder, so glaubhaft sie uns auch erscheinen mögen, nicht länger als Abbilder einer empirischen Realität begreifen. Was Roland Barthes noch in seiner „Hellen Kammer“ so wunderbar beschrieben hat, dass nämlich ein Foto etwas zeigt, das so einmal wirklich existiert hat, kann nicht mehr für alle Fotobilder Gültigkeit beanspruchen. Philip K. Dick hat bereits vor längerer Zeit die Möglichkeit vorweggenommen, mithilfe „künstlicher Intelligenz“ nicht nur Bilder, sondern auch die mit ihnen verbundenen Erinnerungen zu generieren, ohne dass sie sich auf reale Ereignisse beziehen müssen.

Michael Reisch interessiert als Künstler genau dieser Zwischenraum, oder diese Schnittstelle zwischen dem Umgang mit der vertrauen Fotografie, die etwas Außerbildliches festhält und den neuesten Entwicklungen von Technologien und durch Algorithmen definierten Programmen, welche Bilder aus sich selbst heraus zu generieren vermögen – ganz ohne Vor-Bild außerhalb der Apparatur.

Seine Arbeit besteht konsequenter Weise nicht allein darin, Fotos, zu machen und Bilder herzustellen, sondern gleicht eher den Laborversuchen eines Wissenschaftlers und Experimentators, der die Bedingungen des Zustandekommens von Bildern untersucht und immer aufs Neue auslotet. Seine Kunst gleicht deshalb in letzter Zeit eher einem Experimentalsystem: Sie wird zu einer Versuchsanordnung, welche nicht so sehr das perfekte Bild als Resultat anstrebt, sondern einen ergebnisoffenen Prozess, bei dem bildgenerierende Verfahren zum Zuge kommen und zugleich kritisch-reflexiv untersucht werden. So gesehen erweitert Reisch die Grenzen des Mediums Fotografie in radikaler Weise. Und die Ergebnisse sind verblüffend wie zugleich höchst irritierend.

Reisch geht zunächst davon aus, dass unser Vertrauen in ein Bild als Abbild noch immer existiert, doch wagt er einen Schritt nach vorn: Seine Arbeit beginnt kameralos und ohne Anknüpfungspunkte in der realen Welt. Er generiert digital, mit Hilfe des Computers gegenständlich anmutende Gebilde. Zum Bespiel lassen sich Linien, Schwarz-Weiß Muster, Hell-Dunkel-Verläufe und schachbrett- oder treppenartige graphische Strukturen generieren und als 2 –dimensionale Bilder abspeichern. Das, was jedes bessere Graphikprogramm kann, bildet die Grundlage für alles Weitere.

Doch dann kommen neuere Verfahren und deren Algorithmen zum Einsatz, die diese graphischen Vorgaben „materialisieren“, d.h. mithilfe von CAD-Programmen nachempfinden und als dreidimensionale „Skulpturen“ ausdrucken. Das kann eine solche Technologie, weil ihre Algorithmen darauf programmiert sind, zweidimensionale Kantenverläufe zwischen einer schwarzen und einer weißen Fläche räumlich zu „lesen“ und zu „interpretieren“. Mit anderen Worten: Dort wo das Grafikprogramm ohne Mühe ein alternierend Schwarz-Weiß- Graues Streifenmuster geschaffen hat, beginnt das Programm das Ganze dreidimensional zu „deuten“, z. B. als Treppe zu „verstehen“ und auch als solche räumlich-haptisch auszudrucken. Auf diese Weise entstehen dreidimensionale „Gebilde“, die keinerlei Entsprechungen außerhalb ihrer selbst haben.

Es sind vollplastisch materialisierte Bildinterpretationen, deren Präsenz verblüfft und zugleich skeptisch bis kritisch innehalten lässt. Denn das, was sie zeigen, sind im Grunde Fehlinterpretationen. Sie schaffen dort Raum und materielle Substanz, wo faktisch nur gepixelte Zweidimensionalität existierte. Der Algorithmus aber denkt noch nicht wie ein Mensch in Zusammenhängen. Er interpretiert das Vorhandene noch nicht im Sinne einer Exegese, sondern nur im eng gesteckten Rahmen seiner Möglichkeiten. Er versteht es auch noch nicht über sich und sein Programm selbstreflexiv und kritisch zu räsonieren. Und doch liegen die vom 3-D-Drucker perfekt produzierten Resultate haptisch und dreidimensional vor. Wie wird es wohl weitergehen, wenn die die „selbstlernenden“ Systeme sich weiterentwickeln?

All diese Fragen interessieren Michael Reisch als Künstler und er kommt zu einem bemerkenswerten Umkehrschluss: Er fotografiert nunmehr diese rein digital konstituierten, neuen Objekte „traditionell“ mit einer Digitalkamera, was schließlich wieder zu zweidimensionalen Fotos führt. So gesehen kehrt er die traditionelle fotografische Vorgehensweise um. Er gelangt ausgehend von Algorithmen zu realen, räumlich vorhandenen dreidimensionalen und deshalb auch fotografierbaren Situationen und Sachverhalten.

Der bislang bekannte Weg des Fotobildes begann bekannter Maßen genau umgekehrt: immer bei einem Motiv oder Bildgegenstand. Der Foto-Apparat verhalf ihm mithilfe seines Objektivs und gewisser fotochemischer Prozesse dazu sich in die Emulsion des Films oder in den Datenspeicher der Apparaturen neueren Datums einzuschreiben, sozusagen zur Ein-Bildung zu gelangen. Das führte zu den uns vertrauten, im Sinne Roland Barthes auch glaubhaften Fotobildern. Hier aber beginnt die Fotografie ihre eigenen Motive zu generieren, sich ihrer zu bedienen und überführt sie (weil sie sich als Kunst versteht) einer Kritik und Revision.