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Eine unspektakuläre Vorortsiedlung, gebaut Ende der 30er Jahre: 302 kleine Doppel- und Reihenhäuser gruppieren sich ringförmig um größere Gebäudekomplexe im Zentrum der Anlage. Eine eingleisige Bahnlinie führt vorbei an einer Bahnhofsruine. Die Siedlung Föhrenwald entstand im Zuge nationalsozialistischer Wohnungsbaupolitik als Mustersiedlung. Sie wurde ab 1940 als Lager für ausländische Zwangsarbeiter und dienstverpflichtete deutsche Arbeiter der nahegelegenen Munitionsfabriken benutzt. Nach Kriegsende diente der Ort mehr als zehn Jahre lang als exterritoriale Siedlung für jüdische „Displaced Persons“ – Überlebende der Vernichtungs- und Konzentrationslager, die nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren konnten. Nach Auflösung des selbstverwalteten Lagers, das als das letzte jüdische Schtettl in Europa bezeichnet wird, wurden seit 1956 schließlich kinderreiche, deutsche heimatvertriebene Familien in Föhrenwald angesiedelt. Trotz der wechselvollen Geschichte verändert sich das Gesicht der Siedlung kaum. Ihre Geschichte spiegelt sich am deutlichsten in den Straßennamen: Die Danziger Freiheit wird zum Independence Place und schließlich zum Kolpingplatz. Die unter nationalsozialistischer Herrschaft geplanten Gebäude bleiben im wesentlichen dieselben und repräsentieren die Ideale einer bis heute gültigen Form der Eigenheimidylle. Nichts erinnert mehr daran, daß um diese Siedlung, die nicht unter Denkmalschutz steht, noch bis in das Jahr 1957 hinein ein Lagerzaum gezogen war. Die multimediale Installation „Föhrenwald“ imaginiert einen Spaziergang durch die Siedlung. Eine Diaprojektion läßt die heutige Siedlung in Zeichnungen aus weißen Linien auf schwarzem Grund sichtbar werden läßt. Langsam überblenden sich die im dunklen Raum schwebenden Zeichnungen der Häuser ineinander. Die Bilderschleife wird überlagert von einem Soundloop aus Sprache und Musik. Verschiedene Stimmen berichten aus den unterschiedlichen Phasen der Siedlung. Das Material dafür liefern Texte aus der Entstehungszeit der Siedlung, Berichte von Zwangsarbeitern, Interviews mit jüdischen Bewohnern sowie mit den seit 1956 dort angesiedelten Heimatvertriebenen, deren Familien teilweise noch heute dort wohnen. Schauspieler sprechen in sachlichem Ton das bearbeitete Interviewmaterial, Kinderstimmen lesen die historischen Dokumente. Diese vielstimmige Collage ist eingebettet in Musik, die in ihrem gleichmäßigen Strömen die einzelnen Texte verbindet. Als Ausgangsmaterial für die Komposition wurden Fragmente, oft nur das Rauschen, Kratzen, d.h. das Abspielgeräusch von Schellackplatten mit Werken von Bach, Beethoven, Donizetti, Mendelssohn und Schubert, teils als konstituierende oder auch rein atmosphärische Elemente verwendet und dicht in ambientem Sound verwebt. Diese Samples stammen von Aufnahmen, die in den Jahren 1931–38 von den jüdischen Schallplattenfirmen Semer und Lukraphon in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Kulturbund in Deutschland veröffentlicht worden sind. Michaela Meliáns multimediale Dia-Installation „Föhrenwald“ verweist auf die Vielzahl divergierender Geschichten, die sich mit Musik und Bildern komplex verzahnen – zu einem geographischen, soziologischen und kritisch historiographischen Loop. „Föhrenwald“ bedient sich dramaturgischer und kinematographischer Elemente, um die Konstruktion und eindimensionale Lesart gesellschaftlicher Ordnungen und politischer Systeme zu dekonstruieren. "Michaela Meliáns künstlerische Aneignung von Geschichte erinnert an Benjamins geschichtsphilosophisches Konzept des dialektischen Bildes, bei dem Vergangenes und Gegenwärtiges in eine Konstellation treten, die deren Verhältnis blitzhaft erhellt." (Petra Löffler in Springerin, Heft für Gegenwartskunst, 1/2006) Der Soundtrack von „Föhrenwald“ wurde vom Bayerischen Rundfunk | Hörspiel und Medienkunst produziert, es gewann den Online-Award 2005 der ARD-Hörspieltage und wurde 2006 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden, dem wichtigsten Preis für Audioart im deutschsprachigen Raum ausgezeichnet. „Föhrenwald“ entstand als Kooperation von kunstraum münchen, BR Hörspiel und Medienkunst unter Förderung der Kulturstiftung des Bundes.

Kurator: Søren Grammel

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Michaela Melian
Föhrenwald
Kurator: Sören Grammel