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„In my work, memory appears as a document under revision, an uneven patchwork of information that is never complete.” So beschreibt die südafrikanische Künstlerin Minnette Vári (*1968, geboren in Pretoria, lebt und arbeitet in Johannesburg) eine der zentralen Elemente ihrer künstlerischen Praxis. Als eine Art „Geisterjagd“ (Vári) versteht sie die Erforschung gesellschaftlicher wie medialer Paradigmen historischer Rekonstruktion bzw. gelebter Geschichte. Die bedingte Bruchstückhaftigkeit jeder Geschichtsschreibung wird von ihr als ein Prozess der Zusammenführungen, Hervorhebungen und Auslassungen gespiegelt und weist in eindrücklicher Weise auf die Begrenztheit historischer Erkenntnis des einzelnen Individuums hin. Als weisse Künstlerin, die in das Südafrika der Apartheid geboren wurde und die extremen politischen Umwälzungen zur Demokratie direkt und medial miterlebt hat, ist sie ein Seismograph ihrer Verhältnisse, die ihren Körper als Projektions- und Repräsentationsfläche gelebter Geschichte auffasst. Das Thema der historischen Rekonstruktion von medial vermittelter „Realität“ reflektiert Vári in ihren komplexen digitalen Video-Animationen.

In „Alien“ (1998), ihrer ersten grösseren Videoarbeit, verarbeitet die Künstlerin Bilder aus TV-Nachrichtensendungen aus der Zeit zwischen 1994 und 1998. Mit Hilfe eines digitalen Gitters fügt sie sich an jene Orte ein, die von Personen besetzt waren, überschreibt sie mit ihrem Körper, zwängt sich in Silhouetten, die ihr nicht zu passen scheinen und zeigt auf diese Weise ihr Unbehagen mit der medialen Berichterstattung ihres Landes. Sie löscht Referenzelemente oder löst sie aus ihrem Kontext: Es bleiben Helikopter, Löwen, Fotoapparate als Erinnerungsmomente für Südafrika und seine Geschichte bestehen.

Minnette Vári hat damit ein symbolhaftes Bild einer „Einverleibung“ gefunden, das sie in „Oracle“ (1999) nochmals aufnimmt. In erschreckend formaler Anlehnung an Goyas Gemälde des Saturn (Chronos), der seinem Schicksal aus dem Weg gehen will, in dem er seine eigenen Kinder verschlingt, kaut die Künstlerin an einem Bilderfetzen, unklar, ob sie die Bilder aufnimmt oder ausspuckt. Für den Betrachter bleiben sie zwar zum grössten Teil unlesbar, doch sind sie als mediale Bilder erkennbar. Vári beschreibt sie als „konfliktgeladene Geschichten des heutigen Afrika“ — als „disparate Wahrheiten“. Wie der Kannibale in Oswald de Andrade’s Anthropophagischem Manifest“ wird diese Figur dabei auch zur Metapher postkolonialer Identität — zum hybriden Wesen.

„Mirage“ (1999), im Eingangsbereich des Kunstmuseums zu sehen, ist eine weitere Arbeit der Künstlerin, die sich mit der Geschichte ihres Landes auseinandersetzt. Das alte Wappenschild Südafrikas mit den Symbolen der vier Provinzen Kapstadt, Natal, Oranje Freistaat und Transvaal mit dem Motto „Ex Unitate Vires“ (Aus Einigkeit erwachsen die Kräfte) lässt Vári sich in der „Hitze der Geschichte“ auflösen. Sie schafft mit dieser Arbeit ein Sinnbild für das Ende heroischer Metaphern, das Erinnern und Vergessen zugleich thematisiert: Die Inschrift „Historiae ardore in spiritu nostro“ (die Hitze der Geschichte ist in unserem Atem) wird zu „memoriae febre in venis nostris“ (das Fieber der Erinnerung ist in unseren Adern).

In „REM“ (2001), der Aussenprojektion am Dach des KKL, sehen wir die Künstlerin als eine Art Venus von Willendorf, schlafend und in eine Abfolge von Bildern aus dem historischen und zeitgenössischen Afrika eingebettet. Es sind Bilder aus den letzten 100 Jahren, die für Veränderung stehen und nicht nur unsere Wahrnehmung von übermittelter Realität befragen, sondern auch durch ihren traumatischen Charakter von einer Schicksalhaftigkeit zu sprechen vermögen.

Aurora Australis (2001) beschäftigt sich mit den flüchtigen Informationen, die uns im Fernsehen oftmals kryptisch ins Haus gebracht werden. Programme, die nur mittels Decoder empfangen werden können, weisen auf die „exklusive Fernsehunterhaltung“ (Vári) hin, von der der Grossteil der Bevölkerung aus finanziellen Gründen ausgeschlossen ist. Die Künstlerin vergleicht das visuelle Rauschen dieser Bilder, die an vermeintlich Bekanntes erinnern, mit dem fernen Lichterspiel am Südhimmel, der Aurora Australis. Vári hat sich in diese Bilder mit dem Versuch eingeschrieben, eine Narration und Poesie herauszuarbeiten, um sie so interpretativ neu zu sehen.

Dass in Bronze gegossene oder in Stein gehauene Geschichte flüchtig ist, zeigt auch „Chimera“ (2001). Für diese grosse Rauminstallation besuchte Vári das 1949 eingeweihte Voortrekker-Monument in der Nähe von Pretoria und filmte die in einen enormen Marmorfries gehauene heroisierte Geschichte des Burenauszuges von 1835-1854 aus der von den Engländern besetzten Kapkolonie. Als Chimäre, ein Feuer atmendes weibliches Monster mit Löwenkopf, Ziegenkörper und Drachenschwanz, belebt Vári die nüchterne Szenerie und kreiert als mythologisches Wesen das Unerlaubte. Sie weist damit auf die komplexe Widersprüchlichkeit der historischen Vergangenheit wie der südafrikanischen Gegenwart hin.

Die persönliche Begegnung der Künstlerin mit ihrem Heimatland findet ihre Fortsetzung in den Arbeiten „Sentinel Series“ (2002) und „The Calling“ (2003). Für „The Calling“ begab sich Vári in Dämmerstunden in die Innenstadt Johannesburgs, einem Ort, der sich durch Kriminalität und Verwahrlosung auszeichnet – ein Niemandsland und eine Anti-Utopie. Vári, überhalb der Stadt wachend, erbricht eine Eidechse. Dieses Bild verweist auf eine klassische französische Fabel, in der einer Geächteten der Fluch auferlegt wird, Kröten und Reptilien zu speien, wenn sie sprechen möchte. Diese von Vári gewählte Metapher erinnert an die unbequeme Aussenseiterposition des Künstlers/Autors, der bisweilen Unangenehmes aussprechen mag. Mit „The Calling“ gelingt es der Künstlerin, die Frage nach Geschichtlichkeit, Identität und Verortung nochmals zu stellen und die Polarität von Fremde und Heimat eindrücklich in Bilder zu fassen. „Riverrun“ (2004) ist die neuste Arbeit der Künstlerin. In Referenz an James Joyces zyklischer Romanstruktur des „Finnegans Wake“, erweist sich diese Arbeit wie auch ihre Vorgängerinnen als Produkt ihrer eigenen Zirkularität. „Riverrun“ wird zu einem Amalgam menschlicher Lebensläufe, das mit zahlreichen bildlichen Andeutungen nicht nur die Vorstellung einer kollektiven und persönlichen Erfahrungs– und Wissenswelt hervorruft, sondern auch ihr unweigerliches Werden und Vergehen.

Katalog: Minnette Vári, mit Texten von Kendell Geers, Susanne Neubauer, John Peffer, Harald Szeemann, Liese van der Watt, 120 Seiten, dt./engl., Kunstmuseum Luzern 2004, ISBN 3-267-00145-5. Pressetext

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Minnette Vári
Kuratiert von Susanne Neubauer