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Das Trennende kann intensiver empfunden werden als etwas Verbindendes, etwas Entferntes näher als etwas greifbar Nahes. Dieser widersprüchlichen Logik menschlicher Wahrnehmung folgt Mirosław Bałka mit seiner Rauminstallation „WIR SEHEN DICH“ in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Der international renommierte polnische Künstler, der im vergangenen Winter in der Turbine Hall der Tate Modern in London ausstellte, bezieht sich mit seiner Karlsruher Arbeit erstmals auf Werke historischer Kunst, in diesem Fall die bedeutende Karlsruher Sammlung altdeutscher Malerei.

Der Parcours, den er in die Sammlungsräume baut, unterwirft den Besucher einerseits einem bestimmten Wegesystem, bietet ihm andererseits aber auch Stationen, an denen er umsteigen, aus- und einsteigen kann. Der Gang schränkt die Bewegung ein und rhythmisiert die körperliche Erfahrung, lässt aber auch den Blick nach draußen, auf die Bilder der Sammlung zu. Balka inszeniert das Bedürfnis nach einem unverstellten Blick auf die Kunstwerke einer anderen Zeit. Der Titel „WIR SEHEN DICH“, der auf ein gleichnamiges Gedicht von Paul Celan zurückgeht, bekommt auf diese Weise eine neue Bedeutung. Im Kontext der Ausstellung wird aus der Behauptung eine Frage: Was sehen wir eigentlich? Und was sehen wir im üblichen musealen Kontext, was in einem „gestörten“ oder abgewandelten musealen Kontext? Gibt es mehr als eine visuelle Brücke zwischen unserer Welt und der einer weit zurückliegenden Epoche? Sehen wir durch die Verrückung der Perspektive anderes und: Sehen wir mehr?

Mit diesem Projekt startet das inhaltliche Programm der neuen Direktorin der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, Prof. Dr. Pia Müller-Tamm. In der Zukunft wird es vermehrt Dialog-Ausstellungen geben, bei denen ein zeitgenössischer Künstler oder eine Künstlerin sich mit Teilen der hochrangigen Karlsruher Sammlung auseinander-setzt. Diese Strategie ist nicht allein den fehlenden Sonderausstellungsräumen geschuldet, sondern verfolgt die Idee einer Befragung alter Kunst durch neue Kunst, also einer auf die Gegenwart bezogenen Anschauung. Dabei spielt der künstlerische Kontext – wie in diesem Fall – die altdeutsche Malerei eine zentrale Rolle.

Die spätmittelalterliche Malerei, zu der Werke von Dürer, Grünewald und dem Meister der Karlsruher Passion zählen, zeichnet sich durch eine expressive Farbigkeit und eine ungeschönte Darstellung der Leiden Christi aus. Jesus Christus schwitzt Blut, sein von den Schergen der Machthaber malträtierter Körper wird zum Inbegriff menschlicher Not und menschlichen Leidens. Diese Bilder sollten in den Kirchen ihr Publikum zum Mitleiden bewegen und dienten dem frommen Auftrag der Kirche.

Wenn ein Künstler wie Bałka diesen Faden aufnimmt, wird daraus etwas anderes, etwas, das mit unserer Gegenwart verbunden ist. Unsichtbare Leiden von heute, aber auch Erinnerungen an die Menschheitskatastrophen des 20. Jahrhunderts klingen an. Der Tod ist ein überzeitliches Thema, dessen Schrecken und Verheißungen zu den großen Fragen der Menschheit gehört. Durch den Eingriff des Künstlers in die Welt der alten Bilder erschließen sich aber auch andere Aspekte, etwa die Alltäglichkeit und Banalität des Bösen, die Komik und das Groteske an einem ungewohnten Ort.

Mirosław Bałka (geb.1958 in Warschau) gehört zu den Künstlern Osteuropas, die nach der politisch-gesellschaftlichen Wende von 1989 mit ihrem Werk international in Erscheinung traten. In seinen reduzierten Skulpturen und Installationen aus alltäglichen Materialien umkreist er grundlegende Themen menschlicher Existenz. Dabei spielt der eigene Körper als Medium primärer Erfahrungen ebenso eine wichtige Rolle wie die persönliche und kollektive Erinnerung. Die große Installation „WIR SEHEN DICH“ wird flankiert von zwei Videoarbeiten Balkas, „BlueGasEyes“ (2004) und „The Fall“ (2001), die im Erdgeschoß der Kunsthalle gezeigt werden. Das Begleitprogramm soll von der Ausstellung ausgehende Fragen vertiefen und neue Aspekte sichtbar machen. So wird etwa am 22. April der Orientalist Navid Kermani mit dem Kunstwissenschaftler Hans Belting über Konzepte des Sehens sprechen. Am 19. Mai spricht Julian Heynen vor Publikum mit Mirosław Bałka über sein Werk. Und am 7. Juni diskutiert Pia Müller-Tamm mit Stefan Kraus, dem Direktor des Kolumba Kunstmuseum des HYPERLINK "http://www.erzbistum-koeln.de" \t "_blank" Erzbistums Köln, über dessen Erfahrungen in der Konfrontation von alter und neuer Kunst.

Gastkurator der Ausstellung ist Julian Heynen, ein langjähriger Weggefährte Balkas.

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit Texten von Pia Müller-Tamm, Julian Heynen, Holger Jacob-Friesen und Regine Heß im Verlag für Moderne Kunst Nürnberg. Erscheinungsdatum: 19. 5. 2010.

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Miroslaw Balka
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Kurator: Julian Heynen