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Guy Debords Analyse ist radikal: „Das Leben der Gesellschaften, in denen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Ansammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, hat sich in einer Repräsentation entfernt.“ So formuliert es Guy Debord 1967 in seinem Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“, das zu den Klassikern der Kunsttheorie aus den 60er Jahren gehört und 1973 von Debord selbst verfilmt wurde.

Guy Debord (1931–1994), Gründungsmitglied und theoretischer Kopf der Situationistischen Internationale, einer Avantgarde-Bewegung des 20. Jahrhunderts (1957–1972), die an den Schnittstellen von Kunst und Politik operierte, hatte ein ambivalentes Verhältnis zum Kino: Einerseits sollte es, zusammen mit anderen Formen des Spektakels, zerstört werden, andererseits drehte er zwischen 1952 und 1978 sechs Filme und verstand sich, nicht zuletzt, als Filmemacher. Sein Einspruch gegen das Kino war ein Votum für das nicht entfremdete Leben; die radikale Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen an eine Thematisierung des Kinos und des Mediums Film gekoppelt. Er hinterfragt das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft, von künstlerischer und politischer Praxis – und dies könnte nicht nur retrospektiv ergiebig sein, sondern auch aktuelle Diskurse bereichern. Ein guter Grund, Debords Filme aus heutiger Sicht zu betrachten. Nachdem Guy Debord seine Filme im Jahr 1984 mit einem Aufführungsverbot belegt hatte und sie zuletzt nur im Netz und auf Video kursierten, gibt es seit 2005 eine DVD-Edition und auch Filmkopien sind nun wieder zugänglich.

Wir freuen uns sehr, dass wir erstmalig in Deutschland alle Filme von Guy Debord präsentieren können. Für fundierte Einführungen und lebhafte Diskussionen sorgen unsere Gäste: Thomas Y. Levin (Kulturwissenschaftler und Medientheoretiker, Princeton University), Diedrich Diederichsen (Kulturwissenschaftler und Poptheoretiker, Merz-Akademie Stuttgart) und Roberto Ohrt (Herausgeber des Buchs "Das große Spiel – Die Situationisten zwischen Politik und Kunst", Professor für Kunstgeschichte in München, Kassel und Frankfurt).

Filmprogramm

Do 6.11., 20h Eröffnung mit einer Einführung von Thomas Y. Levin IN GIRUM IMUS NOCTE ET CONSUMIMUR IGNI Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt Guy Debord F 1978 OmU 95’ Mit einem lateinischen Palindrom, von vorne wie von hinten lesbar, betitelte Guy Debord seinen letzten Film, in dem er aus dem Off erklärt, dass er weder Konzessionen an den Geschmack der Zuschauer noch an die herrschenden Ideen seiner Zeit machen werde. Nach einer ausführlichen Beschimpfung des Publikums, das ins Kino geht, um sein fremdbestimmtes Leben zu vergessen, wird der Film autobiografisch, anhand von Bildern aus der Welt des Spektakels: Werbeprospekte, Ausschnitte aus Spielfilmen (Les enfants du paradis), Comics, Luftaufnahmen von Paris, Kamerafahrten durch Venedig, Fotografien von Freunden – kommentiert von Debord, mit bisweilen melancholischem Unterton: „Dieses Paris existiert nicht mehr“. Seine Bilanz: Zu den größten Vergnügen, die er in seinem Leben genossen habe, gehöre die Empfindung des Vergehens der Zeit, und als Zeuge der Auflösung sozialer Ordnung habe er seine Epoche geliebt.

Fr 7.11., 20h mit einer Einführung von Thomas Y. Levin LA SOCIÉTÉ DU SPECTACLE Die Gesellschaft des Spektakels Guy Debord F 1973 OmU 88’ Dass ein Autor sein theoretisches Hauptwerk auch als Film vorlegt, kam bislang wohl nur einmal vor: Guy Debord verfilmte sein gleichnamiges Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“ (1967), das großen Einfluss auf die revolutionären Bewegungen seiner Zeit hatte. Die zentrale These lautet: „Das Leben der Gesellschaften, in denen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Ansammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, hat sich in einer Repräsentation entfernt.“ Debord ging es darum, den Film als Mittel zur Vorstellung revolutionärer Theorien zu nutzen und so in den Dienst der Abschaffung des Kapitalismus zu stellen. Die wichtigste Strategie hierbei ist das „détournement“, die Zweckentfremdung bereits existierender künstlerischer Elemente in einem neuen Zusammenhang. Neben Ausschnitten aus Filmklassikern wie Nicholas Rays Johnny Guitar (1954) und Orson Welles’ Mr. Arkadin (1955) benutzt Debord Bilder aus der Werbung, Nachrichten und Archivmaterial. Ein „Theorie-Western“. (Le Monde)

Im Anschluss zeigen wir: RÉFUTATION DE TOUS LES JUGEMENTS, TANT ÉLOGIEUX QU’HOSTILES, QUI ONT ÉTÉ JUSQU’ICI PORTÉS SUR LE FILM „LA SOCIÉTÉ DU SPECTACLE“ Widerlegung aller sowohl lobenden als auch feindseligen Urteile, die bislang über den Film „Die Gesellschaft des Spektakels“ abgegeben wurden Guy Debord F 1975 OmU 22’ Dass ein Autor auch das Lob und die Kritik an der Verfilmung seines Buches auf die Leinwand bringt (und dabei beides zurückweist), ist ebenfalls einmalig – dies ist in der Geschichte des Kinos vermutlich der einzige Film, der sich ausschließlich mit der Rezeption eines vorherigen beschäftigt.

Sa 8.11., 19.30h mit einer Einführung von Diedrich Diederichsen HURLEMENTS EN FAVEUR DE SADE Geheul für de Sade Guy Debord F 1952 OmU 70’ 20-jährig drehte Debord im Jahr 1952 im Umkreis der Lettristen seinen ersten Film, der einen Skandal auslöste. Ein Film ohne Bilder, ein Unterfangen im Sinne eines „kinematografischen Terrorismus“ (Alice Debord), das sich von jeglicher Form der filmischen Repräsentation löst und stattdessen das filmische Dispositiv und den Prozess der filmischen Darbietung und Wahrnehmung selbst vorführt. Mit dem avantgardistischen Gestus der Negation alternieren weiße und schwarze Leinwand. Im hellen Licht der weißen Leinwand sind Textfragmente und gesprochene Dialoge auf der Tonspur zu hören, die schwarze Leinwand bringt Stille in den dunklen Raum. Die letzte schwarze Sequenz dauert 24 Minuten.

Sa 8.11., 21.15h mit einer Einführung von Roberto Ohrt SUR LE PASSAGE DE QUELQUES PERSONNES À TRAVERS UNE ASSEZ COURTE UNITÉ DE TEMPS Über den Durchgang einiger Personen durch eine relativ kurze Zeiteinheit Guy Debord F 1959 OmU 19’ „Wir würden nie wieder zusammenkommen, später oder anderswo. Wir würden nie größere Freiheit erleben.“ Eine ebenso schwelgerische wie illusionslose Rekonstruktion des Sommers 1952 in Paris – ein wichtiges Datum für Debord, nicht nur in dieser filmischen Notiz über die Anfänge des Situationismus, die zornig und melancholisch zugleich ist. Zentral ist eine Fotografie, die Debord und seine Freunde Michèle Bernstein, Asger Jorn und Colette Caillard in der Bar Chez Moineau zeigt. Trinken, Umherschweifen, Dandytum. „Schon in den ersten zwei Minuten sind die drei Bilder zu sehen, die – statt politischer Überzeugung oder theoretischer Erkenntnis – den Ausgangspunkt von Debords Vorhaben, die Welt unregierbar zu machen, bilden: die Straßen von Paris, die Gesichter von Freunden und eine Menge alkoholischer Getränke.“ (Sebastian Lütgert)

Im Anschluss zeigen wir: CRITIQUE DE LA SÉPARATION Kritik der Trennung Guy Debord F 1961 OmU 18’ Auf die Fotografie einer Frau im Bikini folgen zahlreiche Texttafeln, die „demnächst auf dieser Leinwand“ „einen der größten Anti-Filme aller Zeiten“ ankündigen, mit „wahren Helden“ und „einer authentischen Geschichte“. Eine Infragestellung traditioneller filmischer Mittel und Narration, eine „Entmystifikation“ des Dokumentarfilms: Found-Footage-Material aus Propagandafilmen, Seifenwerbung, abgefilmte Pressebilder, Wochenschaumaterial mit de Gaulle und dem Papst und Fotografien von Mitgliedern der S.I. sind mit Aufnahmen des Pariser Straßenbildes und kleinen Inszenierungen kombiniert und werden von situationistischen Theoremen untermalt. Die „Kritik der Trennung“ lässt sich nicht einfach nur als abstrakte Kritik der „vollendeten Trennung“ durch die „spektakuläre Warenökonomie“ verstehen, sondern als konkrete Kritik der Trennung von einigen Freundinnen und Freunden, als Verlust. – „Welches wahrhaftige Projekt haben wir verloren?“

So 9.11., 19.30h GUY DEBORD, SON ART ET SON TEMPS Guy Debord, Brigitte Cornand F 1994/95 frz. OF 60’ „Guy Debord hat sehr wenig Kunst gemacht, aber er hat sie extrem gemacht.“ In seinem gemeinsam mit der Filmemacherin Brigitte Cornand kurz vor seinem Tod für das Fernsehen „unfernsehgerecht“ (Debord) hergestellten „televisuellen Testament“ (Tom Levin) sind demzufolge nur 5 Minuten seiner Kunst gewidmet, 55 Minuten hingegen seiner Zeit: Aralsee, Tschernobyl, Berlusconi, Paris, Nachrichtensendungen, AIDS, Purple Rain und Bill Clinton als Jogger beim G7-Treffen in Neapel.

Eine Veranstaltung mit freundlicher Unterstützung des Bureau du Cinéma der Botschaft von Frankreich.

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Mit dem Kino gegen das Kino - Die Filme von Guy Debord
Ort: Kino Arsenal