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Hat jemand eine Ahnung? Wo sind die Werkzeuge, welche Rolle spielt der Zufall, ist Angst ein Antrieb, braucht es die Störung, was gilt es zu verteidigen? Ist das Glück eine launische Hure? Es ist ein Boojum, nicht wahr?

»Mit Seife und Gabeln« ermittelt aus gegenwärtiger Perspektive soziale, politische und kulturelle Bedingungen für Glück. Parallelerzählung und konzeptionelle Blaupause bilden Motive aus »The Hunting of the Snark«, Lewis Carrolls absurdem Versbericht aus dem Jahr 1876 über eine Handvoll unglücklicher Glücksuchender. Die als »Agonie in 8 Krämpfen« untertitelte Erzählung stellt die individuelle Herangehensweise an diese Suche ins Zentrum. Gefahndet wird nach dem Snark ˆ doch wehe dem, der ihn findet, denn dieser könnte sich als Boojum entpuppen. Carroll beäugt das geschäftige Streben nach Glück mit Ironie und im Geist des Existenzialisten: mit Blick auf der Suche einzig gewisser Erfüllung ˆ dem Tod.

Das Diktum, wir seien alle auf der Suche nach dem Glück, korrumpiert und bindet den Glücksbegriff an rationale Zwecke. Die Flut konsumistischer Happiness-Konzepte bedient sich seiner und setzt ihn an die Stelle konkreter menschlicher Bedürfnisse wie Freiheit oder Gesundheit. Das Glück aber ist rebellisch, es widersetzt sich der Regung, konservativ zu werden, seine Beschaffenheit bleibt liberal und unscharf, seine Anwesenheit flüchtig. Treu seiner etymologischen Bestimmung, zeigt sich das Gelücke nicht selten erst retrospektiv.

data | Auftrag für parasitäre* Gastarbeit beschäftigt sich mit Ermittlungen über das hartnäckigformidable und kreative Potential des parasitären Prinzips. Das Parasitäre Prinzip bezeichnet die erforschte und zugleich praktizierte Arbeitsweise und dient als Werkzeug künstlerisch-theoretischen Intervenierens in aktuelle Kontexte. Von 2007 bis 2010 koppelte data in einem Werkkomplex gegenwartsbezogene Erkundungen zum Glück an Motive aus Lewis Carrolls Versen.

Dieser Komplex bildet das konzeptionelle Fundament dieser Ausstellung, die im Januar/Februar 2011 zunächst im Kunstraum Kreuzlingen (Schweiz) 30 internationale Positionen zeitgenössischer Kunst vorstellte. In Gesellschaft von deren 17 aus der Schweiz beschließt data | Auftrag für parasitäre* Gastarbeit im Substitut in Berlin seine Ermittlungen zum Glück und bündelt die Kräfte∑

«Mit Seife und Gabeln» präsentiert weder Ansichten von Glückseligkeit noch Wege dorthin. Vielmehr tastet jede Position mit Eigensinn im Halbdunkel nach einer Lücke. Es werden Störungen und Zufälle manifest und, dass wir nur im Unglück alle gleich sind. Auch der Besatzung von Carrolls Narrenschiff ergeht es nicht anders. Doch mitunter schimmert durch die Luke ˆ auch deren Sprachwurzel liegt im Gelucke ˆ die Ahnung, dem Glück hafte etwas Transzendentes an.

Während die auch in Berlin arbeitende Bettina Carl zeichnerisch subjektive Erinnerungsbilder und mit kollektivet Kraft schürft und abgleicht und eine Reflexionsebene schafft für Sehnsüchte, die den Blick zurück nach vorne ausrichten, umreißt der Zürcher Beat Füglistaler mit hartem Strich erstarrte Situationen von entleerter Gegenwärtigkeit. Unserem unbeirrten Hoffen auf das herannahende Glück verpasst er mit der minimalistischer Präzision einen bissigen Seitenhieb. In der raumfüllenden Videoprojektion «Die Taube hat sich geirrt» führt Ursula Palla subtil und hochästhetisch wesentliche, auf Angst und Freiheitsverlust gründende Verhältnisse vor. Ihr Symbol des Friedens referiert sowohl auf Sandra Knechts atmosphärisch überwältigendes Innenleben einer verlassenen Baracke als auch auf Franz Gratwohls ebenfalls als Rauminstallation gezeigtes Video «Humanizer», in dem ungewiss bleibt, ob denn die Motte nicht gerade durch das Glück der wiedergewonnenen Freiheit geradewegs ins Verderben flöge.

Glück ist∑auch ein Lottogewinn. Die Frage nach der materiellen Beschaffenheit subjektiven Glücks umtreibt nicht nur den 1982 geborenen Sebastian Schaub. Ironisch unterstreicht sein Gewinnerlos, dass die Glücksverfehlung weitaus mehr Potenz besitzt als die Glückserfüllung. Um die Fragilität des berechenbaren Glückszufalls dreht sich auch Andy Storcheneggers Installation, bei der eine Katze das Kippmoment umklammert, da im unstillbaren Verlangen nach dem Maximum jedes Glücksstreben aus dem Ruder läuft. «Vom Glück übermannt» und spottend widersetzen sich die gravitätischen Kräfte. Reizvoll an solchem Mutmaßen über das Herbeiführen von Glückszufällen ist weniger die demokratische Komponente des Zufalls, als vielmehr die uralte Verzweiflung des Menschen an der unerschütterlichen Hoffnung und dem Glauben an die Richtigkeit des Spiels in jenem Augenblick da das Glück als greifbare Materie erscheint. Glasklar wird unser Unvermögen angesichts von Benjamin Eggers Gebotstafel «Spectral Revolution», die den Weg zum glücklichen Leben in zehn Satzungen in Sprache fasst. Zum persönlichen Partizipieren am Glücksbegriff fordert am 19. November 2011 ein Workshop in den Ausstellungsräumen mit dem Berliner Konzept-(Strick)-Künstler Rüdiger Schlömer heraus.

Publikation:

Mit Seife und Gabeln ˆ Ermittlungen zum Glück, hrsg. von data | Auftrag für parasitäre* Gastarbeit, Revolver Publishing, Berlin; 30 Künstlergespräche, Beiträge von Christine Abbt, Michael Hampe, Gesellschaft des Glücks der Verfehlung (Bazon Brock, Volker Demuth, Jso Maeder, Robert Pfaller), Werkkomplex zum Glück 2007ˆ2010. Umfang: 208 S., 74 Abb. s/w; Poster mit 30 Werkabb. in Farbe. Preis: 22 Euro zuzügl. Versand; ISBN 9783868953572; Bestellung: www.revolver-publishing.com

Veranstaltungen:

Freitag, 28. Oktober 2011, 19h Eröffnung der Ausstellung

Sonntag, 30. Oktober 2011, 11ˆ18h Tagung »Mit Seife und Gabeln. Ermittlungen zum Glück II« Tagungsort: Berlinische Galerie, Veranstaltungssaal, Alte Jakobstraße 124ˆ128, 10969 Berlin / www.berlinischegalerie.de Eintritt: EUR 8/5 Gäste der Tagung: Bettina Carl, Künstlerin, Zürich/Berlin Gesellschaft des Glücks der Verfehlung: Jso Maeder, Künstler, Zürich; Volker Demuth, Schriftsteller, Berlin; Wolfgang Hagen, Medienwissenschaftler, Berlin Mikrokosmos: Sarah Bosetti, Daniel Hoth, Berlin; Radostina Patulova, Philosophin, Wien rebell.tv, Stefan Seydel, Tina Piazzi, Sozialarbeiter/Medientheoretiker, Disentis/Berlin

Samstag, 19. November 2011, 15ˆ18h Workshop in der Ausstellung mit Rüdiger Schlömer / Anmeldung: www.menuedata.net Im Anschluss Barbetrieb bis 22h

Samstag, 10. Dezember 2011, 17ˆ22h The End is the Beginning is the End (Part II)

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Mit Seife und Gabeln
Eine Ausstellung zum Glück II
Kuratoren: data / Auftrag für parasitäre* Gastarbeit (Daniela Petrini, Tanja Trampe)

Künstler: Klara Borbely, Bettina Carl, Eggerschlatter , ekw 14,90 , Beat Füglistaler, Franz Gratwohl, Gabriela Gründler, Sandra Knecht, Pascal Lampert, Ursula Palla, Sebastian Schaub, Rüdiger Schlömer, Martin Senn, Andy Storchenegger, Marion Strunk, Lex Vögtli, Silvie Zürcher