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Wann immer eine Person anfängt, einen Roman zu lesen, beginnt sie, Bilder zu erfinden. Diese Bilder stammen aus der Vergangenheit. Sie sind aus Orten entlehnt, mit denen die Leserin/der Leser vertraut ist oder die sie/er vorher schon einmal gesehen hat. Sobald Friedemann Heckel (*1986) eine Postkarte mit einem handgeschriebenen Satz ausstellt, der besagt: „Das ist das Haus von hinten und ein Stück Garten“, fängt die Betrachterin/der Betrachter unmittelbar an, sich einen Garten vorzustellen, da sie/er es gewohnt ist, Worte und Symbole in Bilder umzuwandeln. Umgekehrt brauchen auch Schriftsteller_innen oft die Vorstellung von einer Landschaft, einer Architektur oder eines Gartens, in dem sie ihre Geschichten verorten und weiterspinnen können. Obgleich Friedemann Heckels Postkarte nicht mehr als eine sachliche Beschreibung hergibt - es handelt sich um eine alte Handschrift - ist weder ihre Adressatin/der Adressat genannt, noch die Autorin/der Autor. Der Garten als Rückzugsort, als Spielwiese, als Erholungsort, als “hortus conclusus” oder als “lieu de mémoire” ist seit Jahrhunderten ein traditionelles Thema in Kunst, Literatur, Medizin und in der Psychoanalyse. Friedemann Heckel arbeitet als Bildhauer; er ist jemand, der es gewohnt ist, visuelle Symbole zu produzieren. Ist diese anonyme Karte hinter Glas versteckt, weil es jenseits des simulacrums, jenseits des geistigen Bildes, das man sich vorstellt, keine geeignete Repräsentation geben kann?

“I am Jesus Christ – risen from the dead!” rief der ungarische Geologe László Tóth (*1940), als er am 21. Mai 1972 Michelangelos Pietà (1498–1499) attackierte. Eines der berühmtesten Meisterwerke verlor seine Perfektion innerhalb weniger Sekunden. Friedemann Heckel zeigt den vergrößerten Ausdruck eines Zeitungsfotos unmittelbar nach diesem Ereignis, gestützt von einer Gehhilfe, auf einem gefälschten Marmorsockel. Das Bild zeigt einen Mann mittleren Alters, László Tóth, der von einer Gruppe von Menschen umgeben ist, die ihn wegtragen, als sei er Jesus, der soeben vom Kreuz weggetragen wurde. Die Bedeutung dieses Dokuments besteht darin, dass der Schaden an der Pietà sichtbar ist und es Tóths immer noch wütenden Trieb, das Porträt der heiligen Jungfrau zu zerstören, einfängt. Der gewalttätigste Angriff in der Geschichte der Statue interessiert Heckel, denn er führt die Verletzlichkeit von Symbolen vor und zeigt einen menschlichen Körper voller Wut und Anspannung. Heute ist Michelangelos Pietà nahezu perfekt restauriert und durch Sicherheitsglas geschützt. Friedemann Heckels Kunstauffassung ist zyklisch; ein Großteil seiner Kunstwerke sind gefundene Objekte, die er dem Prozess des Erschaffens, der Zerstörung, Wiederherstellung und Vervielfältigung unterzieht. Ihn interessiert die Art und Weise, wie sich das Äußere und die Bedeutung eines Kunstwerks innerhalb kurzer Zeit verändern können. Darum funktionieren viele seiner skulpturalen Werke wie eine Stütze, ein/e Gefängniswärter/in, ein/e Nachahmer/in oder wie ein architektonisches Gehäuse für seine gefundenen Zeitungsausschnitte, Filme, Gedichte und abstrakten Zeichnungen.

Ein weiteres Bild, über eine Konstruktion aus Alu-Profilen und den Boden gehängt, besteht aus einer vergrößerten Abbildung zweier ballspielender Frauen, entnommen aus der Sport Revue, einem populären Magazin aus der ehemaligen DDR. Dieses Bild aus den frühen Siebzigern besitzt eine auffallend stilisierte Ästhetik. Das einfarbig blau gedruckte Sportfoto auf vergilbtem Zeitungspapier erinnert an eine Szene aus dem Prä-Nazi Film „Wege zu Kraft und Schönheit” von Wilhelm Prager aus dem Jahre 1925. Das Ideal eines athletischen und wohlgeformten Körpers hat seine Wurzeln bei den alten Ägyptern und den Griechen. Totalitäre Systeme setzten Körperbilder ein, um die Vorstellung eines überlegenen Menschen zu nähren.(1) Mithilfe eines skulpturalen Displays betont Friedemann Heckel in seiner Installation „Revue” (2011) das strenge Posieren der Frauen. Die inszenierte Hängung des Fotos scheint wie eine Übertreibung ihrer trockenen Leibesübungen. Diese visuelle Umkehrung der signifikanten Motive eines Bildes ist eine Strategie, die Heckel benutzt, um das menschliche Verlangen, den Schlüssel immer nur in dem Bild zu suchen, herauszufordern und in die Irre zu führen.

Zurück zum Anfang; Friedemann Heckel ist sich darüber im Klaren, dass Menschen in Bildern denken. Doch wo sind diese? Seine prozessualen Zeichnungen bestehen aus fast unverständlichen Worten, Sprachfetzen und Symbolen. Die abgeschnittenen Ränder einer vorangegangenen Zeichnung werden auf einem Blatt zu geometrischen Figuren komponiert, deren kühle Ästhetik und Pastellfarbe an architektonische Pläne erinnert. Diese Leidenschaft für abstrakte Kompositionen, Rekombinationen und das Abwesende geht einher mit seinem Sinn für loci(2). Er will zeigen, dass einzelne Texte, Gedichte und Bilder nichts beweisen und erzählen können - es ist erst ihre visuelle Architektur, die sie verständlich macht. So sind auf dem aus einem Antiquariat geliehenen Kupferstich „Scenen aus Wien“ von 1830 Akrobaten zu sehen, deren gespreizte Gliedmaßen und bunte Kostümierung aus der Ferne wie Ornamente wirken. Auch das DIN A4 Papier mit einem Auszug aus Rainer Maria Rilkes „Malte Laurids Brigge” (1910) unterbrochen von trivialen Neuigkeiten des „Berliner Fensters“(3), lässt aus der Distanz erkennen, wie schwarze und blaue Linien abstrakte Querstreifen bilden. Friedemann Heckel umschließt seine Objekte mit einem Haus und einem Garten, mit einem visuellen Raum des Denkens, den er mit folgenden Worten aus einem Songtext der „Einstürzenden Neubauten“ beschreibt: “You will find me if you want me in the garden.”.

Künstlergespräch mit John Beeson: Freitag, 09. September 2011, 19 Uhr

Fussnoten: 1 Die DDR hatte, trotz ihrer Größe, den dritten Platz in der weltweiten Rangliste der Sportnationen inne. 2 Lat. locus (Plural: loci) = Ort, Schauplatz 3 Berliner Fenster: Monitore, die in Berlins Metro Nachrichten zeigen

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Whenever a person starts to read a novel, one begins inventing images. These images are drawn from the past. They consist of places that the reader is familiar with or has seen before. When Friedemann Heckel (*1986) shows a postcard with a handwritten sentence saying: „Das ist das Haus von hinten und ein Stück Garten”, the viewer immediately starts to imagine a garden; transferring words and symbols into images is habitual. Vice versa, authors often need the idea of a landscape, architecture or a garden where they can set and develop their stories. Although Friedemann Heckel’s postcard gives no more than a description - it is an old handwriting - neither the addressee is named, nor the author. The garden as a safe haven, a playground, a place for recreation, a “hortus conclusus” or as a “lieu de mémoire” has been a traditional subject in art, literature, medicine and psychoanalysis for centuries. Friedemann Heckel works as a sculptor; a person that is used to create visual symbols. Does this anonymous card get hidden behind glass because there can’t be an appropriate representation beyond the simulacrum, beyond the mental image one creates?

“I am Jesus Christ – risen from the dead!” was the Hungarian geologist László Tóth (*1940) shouting while he was attacking Michelangelo’s Pietà (1498–1499) on the 21 May 1972. One of the most widely known masterpieces lost its perfection in a few seconds. Friedemann Heckel shows an enlarged newspaper print of the incident’s aftermath supported by a walking frame on top of a fake marble pedestal. The image is of a middle-aged man, László Tóth, surrounded by a group of people carrying him away as if he were Jesus just removed from the cross. This document is of high significance since the Pietà’s damage is visible and it has captured Tóth’s ongoing thrill to destroy the portrayal of the virgin. This most violent attack in the statue’s history interests Heckel because it shows the vulnerability of symbols and a human whose body is filled with tension. Today Michelangelo’s Pietà is perfectly restored and enshrined in security-glass. Friedemann Heckel’s idea of art is rather circular; most of his artworks are found objects which he puts into a process of creation, destruction, recreation and replication. What interests him is the way a work can easily change its face and meaning in a short period of time. That is why Heckel’s sculptural work often functions like a pillar, a jail guard, a copy-cat, or an architectural housing for his found newspaper clippings, films, poems and abstract drawings.

Another image, slung over an aluminum construction and onto the floor, is of two sportive women in a large poster print cut out from Sport Revue, a popular sports magazine from the former GDR. This image from the early seventies has remarkable stylized aesthetics. This bluely printed sports picture on yellowed newspaper calls to mind a scene from the pre-Nazi film „Wege zu Kraft und Schönheit” from Wilhelm Prager in 1925. The ideal of an athletic and perfectly shaped body goes back to the old Egyptians and Greeks while totalitarian systems often used body pictures to form the image of a superior human.(1) In his installation „Revue” (2011), Friedemann Heckel reinforces this women’s straight posing with the help of a strong sculptural display. The theatrically hung picture is like a hyperbole to their dry body exercises. This visual conversion of a picture’s significant motives is a strategy Friedemann Heckel is using to challenge and fool people’s desire for always seeking the key inside the picture.

Back to the beginning; Friedemann Heckel knows that humans think within images. But where are they? His processual drawings consist of almost illegible words, language scraps and symbols. The excess of a predecessor drawing is composed on the paper and these geometrical figures and pastel colors remind on the sober aesthetics of architectural plans. This passion for abstract compositions, recombinations and the absentees goes together with his sense for loci(2). He intends to show that single writings, poems and pictures can’t tell or prove anything; it is first and foremost their visual architecture which makes them comprehensible. So the spread limbs and colored costumes of the acrobats on the etching “Scenes from Vienna” from 1830, borrowed from an antique shop, seem like ornaments from afar. Even on the A4 paper with the excerpt of Rainer Maria Rilke’s „Malte Laurids Brigge” (1910) crossed with trivial news from the „Berliner Fenster”(3), it's visible how black and blue lines build abstract, horizontal stripes from a distance. Friedemann Heckel wraps a house and a garden around his objects, a visual space for thinking, which he describes with a song text from „Einstürzende Neubauten”: “You will find me if you want me in the garden.”.

Artist talk with John Beeson: Friday, September 9, 2011, 7 pm

Footnotes: 1 The GDR had the third place in the worldwide sports ranking, though its size. 2 Lat. locus (plural loci) = place, locality 3 Berliner Fenster: screens displaying news in the Berlin subway

With special thanks to: John Beeson, Leonard Bessemer, Mitya Churikov, Antiquariat Düwal, Anissa Marie Fulbright, Azra Gül

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Friedemann Heckel
NOTE ON a solid soul
Kuratoren: Ulrike Gerhardt, Jens Mentrup