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Oskar Kokoschka, einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts, hinterliess bei seinem Tod im Jahre 1980 ein umfangreiches Erbe, das heute auf drei Institutionen verteilt ist: Der 1988 gegründeten Fondation à la mémoire de Oskar Kokoschka mit Sitz im Musée Jenisch Vevey übergab Kokoschkas Witwe Olda die in ihrem Besitz verbliebenen Kunstwerke, der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich den schriftlichen Nach-lass und dem Oskar-Kokoschka-Zentrum in der Universität für angewandte Kunst in Wien den Photonachlass, eine grosse Sammlung von Zeitungsartikeln und drei Viertel der rund 4’000 Werke umfassenden Bibliothek des Künstlers. Zu Kokoschkas Hinterlassenschaft gehört jedoch auch eine Sammlung von über 300 Objekten, die der Künstler im Laufe seines Lebens in seinem Arbeits- und Wohnbereich um sich versammelt hatte. Während ein grosser Teil der Kunstwerke der Fondation Oskar Kokoschka in Werks- und Ausstellungskatalogen publiziert ist, der schriftliche Nachlass und die Künstler-Bibliothek von einer Gruppe internationaler Forscher nach und nach erschlossen und untersucht werden, fehlte es bis heute an einer Studie über Kokoschkas Sammeltätigkeit. Die¬sem Desiderat haben sich die Fondation Oskar Kokoschka, die Stiftung Liner Appenzell und die Kokoschka-For¬schungsgruppe des Institut d’histoire de l’art et de muséologie der Universität Neuchâtel gemeinsam angenommen. Durch die Ausstellung Oskar Kokoschka – Wunderkammer im Museum Liner Appenzell und die gleichnamige Begleitpublikation wird der Öffentlichkeit erstmals eine Auswahl von Sammlungsstücken aus Kokoschkas Atelier¬haus in Villeneuve vorgestellt. Es handelt sich um Objekte antiker und exotischer Kulturen, um allerlei Kuriositä¬ten, die der Künstler auf seinen unzähligen Reisen erstanden, oder die ihm Freunde als Mitbringsel überreicht hatten. Unterschiedslos reihte Kokoschka kostbare griechische Vasen, antike Skulpturenfragmente, präkolumbi¬sche, byzantinische, ostasiatische, indische, afrikanische und ozeanische Stücke neben Reisesouvenirs und billi¬gem Nippes in Vitrinen und auf Bücherregalen auf. Ganz in der langen Tradition der Kunst- und Wunderkammern sammelte Kokoschka auch Mineralien, Fossilien, getrocknete Pflanzen, Muscheln, Schmuck, antike Münzen, Kupferstiche und Devotionalien.

Kokoschkas Leidenschaft für die Antike spiegelt sich in der Einrichtung seiner 1953 am Genfersee erbauten Villa Delphin: »Ein Rundgang durch Kokoschkas Haus in Villeneuve, das er sich zu Beginn der fünfziger Jahre gebaut hat, zeigt, daß ihn dieses Gebanntsein vom geistigen und bildnerischen Wesen der Antike bis heute nicht ver-lassen hat: antike Münzen, Ausgrabungsreste und eine große Bibliothek mit Büchern über antike Kunst, antike Geschichte und über die klassischen Landschaften der Antike legen davon Zeugnis ab.«

Ein systematischer Vergleich der einzelnen Sammlungsstücke mit seinem künstlerischen Werk ergibt, dass viele der Objekte zu Studienzwecken und als ›Modelle‹ dienten. Sie finden sich in Ölgemälden, Aquarellen, Zeichnun-gen und Lithographien wieder. So prangt beispielsweise auf dem Titelblatt von Kokoschkas Illustrationen zu den Troerinnen ein korinthischer Bronzehelm aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., den Kokoschka 1960 im Londoner Kunsthandel erworben hatte. Die Sammlungsstücke waren für ihn eine wichtige Inspirationsquelle, wie aus einem unpublizierten Brief an seine Schwester vom 1. April 1957 hervorgeht. Darin berichtet Kokoschka vom Erwerb des Marmorkopfes der Göttin Athena aus dem 5. Jh. v. Chr. und nennt diesen eine »Trouvaille, die mich wegen der großen Qualität antreiben wird mein Theseusbild zuhause um Vieles besser zu machen«. Die Bedeutung und Funktion seiner Sammlung antiker Münzen erklärte der Künstler 1955: »[…] Münzen sind für mich eine Art Museum in der Westentasche, auch im Unterricht sehr nützlich.«

Die Ausstellungskuratoren Régine Bonnefoit und Roland Scotti haben zusammen mit Francine Vuillème und Annette Windisch den Versuch unternommen, das von Kokoschka während jahrzehntelanger Sammeltätigkeit geschaffene Universum, das von der unendlichen Neugier eines Humanisten zeugt, anhand von Photos, Briefen, Berichten von Zeitzeugen und den erhaltenen Gegenständen zu rekonstruieren. Darüber hinaus wird der Bezug einzelner Sammlungsstücke zu seinem künstlerischen Werk beleuchtet. Im Ausstellungsrundgang, der in den zehn Kabinetten des Museum Liner mehr als achtzig Kunstwerke mit mehr als hundert Objekten kombiniert, wird der Dialog des Banalen mit dem Sublimen, des Gelehrten mit dem Empfundenen, des Gewussten mit dem An-schaulichen, des Schönen mit dem Schrecklichen nachvollzogen – ganz im Sinne der Tradition der fürstlichen und bürgerlichen Wunderkammern, in denen Kunst und Natur, Spiel und Ernst vereint waren.

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Oskar Kokoschka
Wunderkammer