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Jedes Mal ist es überraschend, in Otto Zitkos grafisch-abstraktem Universum auf die menschliche Figur zu stoßen – ein Gesicht oder auch andere Teile des meist weiblichen Körpers recht explizit ins Bild gerückt zu sehen. Vor „explicit material“ warnen uns in US-amerikanischen Museen Tafeln vor dem Eintreten in Räume mit sexuell aufgeladenen Darstellungen. Europa war da immer etwas freizügiger, auch wenn sich diverse Sammlungen von Erotika auch hier meist in Mappen versteckt in den Schränken der Herrenzimmer verbergen. Seit der Publikation der Hetärengespräche von Gustav Klimt oder dem Öffentlichwerden entsprechenden Materials von Egon Schiele, welches Frauen mit gespreizten Beinen und Einblick in die „private parts“ seiner Modelle zeigte, wurden diese Bilder als Teil einer österreichischen Kunstgeschichte kanonisiert. Erst VALIE EXPORT hat mit ihrer Performance Genitalpanik (1969) den männlichen Blick auf das weibliche Geschlecht einerseits zugelassen, gleichzeitig aber auch mit dem Gewehr in der Hand verteidigt. Seit Gustave Courbets L’origine du monde (1866) ist die Vulva in realistischer Darstellung ein Thema der abendländischen Malerei. Abstraktionen hingegen fanden bereits seit Anbeginn menschlicher Ausdrucksbestrebungen Eingang in bildliche Darstellungen unterschiedlichster Kulturen, wie wir sie auch heute noch in jeder öffentlichen Bedürfnisanstalt bewundern dürfen. Pythia, der Titel von Zitkos neunteiliger Lithografiemappe, gibt uns ebenfalls einen Hinweis auf die weibliche Konnotation der Grafikserie und einen Interpretationshintergrund, welcher sich als aufgeladen und mehrdeutig erweist. Pythia war der Titel jener weiblichen Priesterinnen, welche im Tempel von Delphi Ratsuchenden weissagten. Sie saßen über einer Erdspalte, aus welcher ethylenhaltiges Gas quoll. Solcherart in Trance versetzt, sprachen sie in rätselhaften Stimmen, welche wiederum von männlichen Priestern interpretiert werden mussten. Die jungfräulichen Frauen waren in dieser von Männern dominierten Gesellschaft also auch in ihrer privilegierten Position als Priesterinnen Medium und nicht selbst in einer Position der Macht. Die Vorstellung durch die Versetzung in einen Rauschzustand, durch das Ausschalten der Kontrolle näher an eine Sphäre der „Wahrheit“ zu gelangen, ist vielen (Natur-)religionen zu Eigen. KünstlerInnen haben seit dem Surrealismus z.B. in der écriture automatique versucht an vom Intellekt überdeckte Persönlichkeitsanteile heranzukommen – die berühmten Telefonkritzeleien eignen sich ebenfalls dazu – sie einer der freudschen Traumdeutung vergleichbaren Analyse zu unterziehen. Ist es verwegen zu behaupten, dass der Künstler sich selbst als Medium setzt, durch dessen Körper hindurch sich eine fremde Stimme manifestiert? Ist es wirklich eine andere oder ist es nicht vielmehr seine innerste und eigenste Stimme? Wir kennen alle die überraschend spirituell aufgeladene Geschichte der Entstehung der abstrakten Kunst am Anfang des 20. Jahrhunderts. Einer ihrer Mitbegründer, František Kupka, hat in seiner Jugend selbst als Medium gearbeitet – und in seinen späteren abstrakten Gemälden immer den spirituellen Gehalt seiner Werke betont, ähnliche Erklärungsmodelle finden wir bei Malewitch, Kandinsky und Mondrian. Maurice Tuchmann hat in seiner Studie The Spiritual in Art (1) diesen Entwicklungsstrang überzeugend herausgearbeitet. Die Assoziationskette Erde–Spalte–Frau–Vulva wird erst in ihrer Übertragung auf den männlichen Künstler spannend und dynamisiert so tradierte Geschlechterpositionen. Wenn nun der Künstler das Medium also die Pythia wäre und die Autorin die Interpretin, was gäbe es dann zu weissagen? Immer schon war die Ambivalenz zwischen dem scheinbar Wilden, Chaotischen und Spontanen des gestischen Ausdrucks seiner Linie und dem Kontrollierten, Gestalteten und Gewollten in Zitkos Werk ein Thema der Interpretation. Gibt es so etwas wie eine willentlich erzeugte Spontaneität? In welcher Balance hält sich bewusste Steuerung und freier Lauf des Lineaments? Allemal lässt sich konstatieren, dass sich bestimmte Formkonstanten in seinem Oeuvre feststellen lassen, wie z.B. die ovale Form, welche meist das Bildformat sprengt und nicht vollständig abgebildet ist. Dies betrifft vor allem die bildhaften Formgelegenheiten wie Gemälde, Zeichnungen oder Grafiken, weniger die Wandarbeiten. An diese wiederkehrende Form zu rühren, scheint aber nicht unmittelbar die Preisgabe des Geheimnisses zu versprechen: „Doch die Spalte, die Löcher, die Zonen geben nichts zu sehen, offenbaren nichts: Die Sicht dringt nicht ein, sie gleitet die Abstände entlang, sie folgt den Aufbrüchen.“ (2) Fast scheint es, als wäre das Nicht- oder Nichts-Sehen-Können der Ursprung für die ständige Wiederholung des suchenden Aktes. Schier unstillbar perpetuiert er sich, setzt immer wieder von neuem an. So scheint der Punkt des einen Bildes den Anfang des nächsten zu bilden. Das Ziel der Einschreibung ist – geführt durch den Körper des Künstlers und mittels des Mediums der Hand in seiner ihm eigenen unverwechselbaren Manier – immer der Körper, an den mit dem Stift oder der Kreide gerührt wird: „Der Körper ist das Offene. Und damit es Öffnung geben kann, muss es etwas Geschlossenes geben, muss man an die Schließung rühren. An das Geschlossene zu rühren ist bereits schon öffnen. Vielleicht gibt es niemals Öffnung ohne ein Anrühren [un toucher] oder eine Berührung [une touche]. Und öffnen – berühren – bedeutet nicht zerreißen, zerteilen, zerstören.“ (3) Der Körper als Adressat Otto Zitkos Kunst ist vielleicht nirgends so bildlich dargestellt und explizit sichtbar wie in dem figurativen Bild in der besprochenen Grafikserie. Nicht mit zerstörender Kraft wie in Kafkas Erzählung In der Strafkolonie schreibt Zitko sich in andere Körper ein, sondern wie im Mädchenbildnis der Serie als zarte Körperritzung – als rotes, fragiles Tattoo, das auf die Schulter des Gegenübers gedruckt wird.

Hemma Schmutz, 2008

1 Maurice Tuchmann, The Spiritual in Art: Abstract Painting, 1890-1985 New York 1986. 2 Jean-Luc Nancy, Corpus, Berlin 2003, S 43. 3 ebenda, S. 105.

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