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Mit dieser Ausstellung setzt das Haus der Kunst die 2003 aufgenommene Reihe von Präsentationen fotografischer Sammlungen fort. Nach "Partners" der kanadischen Sammlerin Ydessa Hendeles, "Occupying Space" der Generali Foundation und "Der Körper der Photographie" der Sammlung Herzog werden nun erstmals die Sammlungen von Martin Parr im Zusammenhang gezeigt. Parr ist einer der dynamischsten zeitgenössischen Fotografen. Anerkannt als Satiriker zeitgenössischen Lebens hat er über dreißig Bücher publiziert, seine Bilder in unzähligen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt und ist mit seinen Werken in herausragenden nationalen und internationalen Kunstsammlungen vertreten. Dass Parr selbst sammelt, ist weitgehend unbekannt. "Parrworld" setzt seine eigenen Fotografien in einen Dialog mit seinen Sammlungen und spürt Querverweise und Zusammenhänge auf.

Parr, der Mitglied der legendären Fotoagentur Magnum ist, versteht auch das Fotografieren als einen Akt des Sammelns. In "Parrworld" wird seine neue Werkgruppe "Luxury" mit seinen Sammlungen von Fotografiebüchern, Postkarten, Objekten, britischer und internationaler Fotografie gemeinsam präsentiert. Zusammen entsteht eine mediale Wunderkammer, die zugleich ein Psychogramm ihres Urhebers ist. Durch das ironische Jonglieren mit dem Klischee des skurrilen britischen Sammlers verschiedenartiger Objekte legt sich Parr eine weitere Facette seiner Persönlichkeit zu. Seine Faszination für das Banale und seine Vorliebe für die Ausnahme von der Regel, für das Ungewöhnliche und Ausgefallene verleihen seinen Sammlungen ihre individuelle Note. "Parrworld" wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Fotografen entwickelt und setzt sich aus fünf Sammlungen zusammen:

Postkarten Die Stücke dieser Sammlung können fast ein ganzes Jahrhundert beschreiben. Als die Tageszeitungen technisch noch nicht in der Lage waren, Fotografien zu drucken, gab es bereits eine große Nachfrage nach Bildmaterial, das aktuelle Ereignisse zeigte. Das Interesse an Sensationen führte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nach den zuvor praktizierten Verfahren des Holz- und Kupferstiches in der Form der fotografischen Bildkarte zu einer besonders zeitnahen Berichterstattung, die in der schnellen und preiswerten Produktion ihre Grundlage hatte. Eine Auswahl dieser Nachrichtenbilder steht am Anfang dieser Sammlung von Postkarten, die Parr begann, vor dreißig Jahren zusammen zu stellen. Weitere Schwerpunkte bilden Studioporträts, die Produktionen der Fotografen Warner Gothard und John Hinde, Ferienpostkarten und Kuriosa wie "Boring Postcards", die Autobahnen, Plattenbauten und Interieurs zeigen. Die Sammlung belegt die wechselnden Gebrauchsweisen dieses einfachen, preiswerten und populären Kommunikationsmittels. Die Postkarten präsentieren ihre Motive in verdichteter Form als ein Ideal, das natürlich eine Konstruktion des jeweiligen Fotografen ist.

Objekte In dieser Sammlung vereinen sich Gegenstände unterschiedlichen Charakters. Hier stehen u.a. Objekte der sowjetischen Sputnik-Ära, der Regierungszeit Maggie Thatchers, der Popband Spice Girls, der Anschläge von 9/11 für Ereignisse, die auch aufgrund ihrer medialen Vermittlung - in der die Fotografie eine wesentliche Rolle spielt - das kollektive Gedächtnis geprägt haben. Kein Alltagsobjekt oder Kuriosum, das nicht von Parr auf seine Bedeutung als mögliches Symbol des Zeitgeistes untersucht wird. Objekte aus verschiedenen Quellen werden von ihm thematisch arrangiert und erhalten so eine neue Lesart: "Gegenstände, die vergänglich sind, ziehen mich sehr an. Ihre Bedeutung und ihr kultureller Kontext wandeln sich mit dem Lauf der Welt. Viele dieser Objekte sind mit Personen oder Ereignissen gekoppelt, die im Glanz einer bestimmten Zeit, eines bestimmten Ortes gefangen sind. Wenn dieser Glanz verlischt, fällt sein Nachschein auf das Objekt; er ist die treibende Kraft dieser Sammlung."

Fotografiebücher Um das Medium Fotografie und um das gedruckte Bild geht es auch bei Parrs einzigartiger Sammlung nationaler und internationaler Fotografiebücher. Die Sammlung zeigt die Geschichte des Fotobuchs anhand einer Auswahl besonders wichtiger oder interessant gestalteter Publikationen, von Ikonen der Buchkunst bis zu Publikationen unbekannter Verlage. Alle Anwendungsbereiche der Fotografie werden präsentiert: von der Werbung über die Propaganda, der Auftragsfotografie bis zur künstlerischen Äußerung im selbst gestalteten Buch. Nachdem Parr zusammen mit Garry Badger 2004 und 2006 die beiden Bände "The Photobook - A History" herausgebracht hat, sind Fotografiebücher zum begehrten Sammelobjekt geworden. In diesem Bereich werden auch Book-Dummies, von den Fotografen angefertigte Buchentwürfe ihrer Publikationen, gemeinsam mit einigen Originalfotografien gezeigt.

Fotografische Sammlungen Parrs Interesse an gesellschaftlichen Themen spiegelt sich auch in seinen fotografischen Sammlungen wider, die in einen britischen und internationalen Teil aufgeteilt präsentiert werden. Der erste Teil bildet die umfangreichste Privatsammlung, die zur Zeit in Großbritannien besteht. Aus ihr wird eine Auswahl sozialdokumentarischer Positionen von u.a. Tony Ray-Jones, Chris Killip und Graham Smith aus den 70er- und 80er-Jahren zu sehen sein. Die aktuelle zeitgenössische britische Fotografie ist u.a. durch Keith Arnatt, Mark Neville, Jem Southam oder Tom Wood vertreten. Der internationale Teil dieser Sammlung wird repräsentiert durch Fotografen, die Parr beeinflusst haben oder zu denen er eine persönliche Beziehung entwickelt hat: Bilder von Klassikern wie Robert Frank, Garry Winogrand oder William Eggleston stehen Aufnahmen von Freunden wie John Gossage oder Gilles Peress gegenüber. In Deutschland einer breiten Öffentlichkeit unbekannte japanische Fotografen wie Osamu Kanemura, Kohei Yoshiyuki oder Rinko Kawauchi bilden einen weiteren Schwerpunkt.

Luxury In diesem Bereich von "Parrworld" wird in einer Premiere die neue Serie "Luxury" des vielfach ausgezeichneten Fotografen gezeigt. Diese Serie schildert den Wohlstand der westlichen Welt, den Parr als ebenso großes Problem ansieht wie Armut: "Wir sind alle wohlhabender als uns gut tut."

Martin Parr wurde Anfang der 80er-Jahre bekannt, als er sein Buch "Bad Weather" veröffentlichte, in dem er das landesübliche Wetter zum Thema machte. Seine Schwarzweißfotografien sind von einem besonderen Humor geprägt. Allerdings ist seine Fotografie kein Beispiel der "lachenden Kamera", sie macht sich nicht lustig auf Kosten anderer. Wenn der Regisseur Wim Wenders sagt, dass jede Kamera immer in zwei Richtungen fotografiere, dann trifft das auf die Arbeit von Martin Parr ganz besonders zu und ist Teil der Glaubwürdigkeit seiner Arbeit. Der Fotograf selbst betont, dass man seine Arbeit als zeitgenössisches Gesellschaftsbild, aber auch als Selbstporträt verstehen kann.

In den 80er-Jahren wechselte Parr zur Farbfotografie und behandelte in umfangreichen Serien Freizeitgestaltung, Konsumverhalten, Massentourismus, Mobilität und Kommunikation. Nationale Eigenheiten, ihre globale Nivellierung und internationale Phänomene werden dabei von ihm auf ihre Gültigkeit als Symbole für das zukünftige Verständnis unserer Kulturkreise untersucht. Es wird so möglich, eine Analyse der sichtbaren Zeichen der Globalisierung mit ungewöhnlichen Seherfahrungen zu verbinden. Individuelles wird gegen Universelles gesetzt, Widersprüche bleiben unaufgelöst, Eigenheiten werden akzeptiert und Skurriles geschätzt.

Parr bezeichnet die Macht der allgegenwärtigen Bilder in den Medien und der Werbung als "Propaganda". Er widerspricht mit den Mitteln der Kritik, der Verführung und des Humors. Viele seiner Aufnahmen wirken übertrieben, zum Teil grotesk - eigenartige Motive, grelle Farben, verdichtete Perspektiven. Seine Fotografien sind originell und unterhaltend, zugänglich und verständlich.

Für seine neue Serie "Luxury" hat Martin Parr an internationalen Orten wie Dubai, Durban oder Moskau Modenschauen, Kunst- und Luxusmessen, Pferderennen sowie in München beim Oktoberfest fotografiert. Bescheidenheit ist nicht unbedingt eine ausgeprägte Charaktereigenschaft der Vertreter eines internationalen Jetsets, die stolz die Insignien neuen Geldes und äußerlichen Wachstums präsentieren. Konsequent wendet sich Parr nach seinen früheren Projekten über die Arbeiter- und Mittelklasse mit den Mitteln der Groteske nun dem Phänomen einer neuen internationalen Upperclass zu.

Zur Ausstellung erscheinen bei Chris Boot Ltd zwei Veröffentlichungen: Martin Parr, "Objects" (mit einer Einführung von Martin Parr; 176 Seiten, 500 farbige Abbildungen, ISBN 978-1-905712-08-3) und Martin Parr, "Postcards" (mit einem Essay von Thomas Weski; 336 Seiten, 750 farbige Abbildungen, ISBN 978-1-905712-10-6).

Im Anschluss an die Präsentation im Haus der Kunst wird die Ausstellung im Graphic Design Museum Beyerd Breda, Niederlande, gezeigt (24. September 2008 - 6. Januar 2009). Weitere internationale Stationen folgen.

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Parrworld
Die Sammlungen von Martin Parr
Kurator: Thomas Weski

Stationen:
05.07.08 - 17.08.08 Haus der Kunst, München
24.09.08 - 06.01.09 Museum De Beyerd, Breda
30.06.09 - 27.09.09 Jeu de Paume, Paris