press release only in german

Die Kunsthalle Basel freut sich, die erste umfassende Einzelausstellung Paul Sietsemas in Europa zu präsentieren.

Jede einzelne Arbeit von Paul Sietsema lässt sich als eine Formalisierung des Arbeitsprozesses beschreiben – als dessen letzte Phase oder vielleicht bloß als vorübergehende Unterbrechung ‒ im Anschluss an mehrere Jahre der Recherche, der Konstruktion und der Schichtung des mannigfaltigen, kulturellen Materials, dem oft eine persönliche Bedeutung zukommt. So entspricht die Eigenschaft von Filmen, eine Dauer zu haben, der Dauer ihres Herstellungsprozesses ‒ eine spezifische Arbeitsethik, die das eigentliche Sujet der Arbeit ausmacht, während Motiv und Medium variieren können. Für seine Zeichnungen und Gemälde, die oft mittels idiosynkratischer, arbeitsintensiver, vom Künstler entwickelter Techniken entstehen, bearbeitet Sietsema zumeist existierende Artefakte, die ihm als Ausgangspunkt für eine Folge materieller Transformationen dienen. So verwendete er für die Reihe der vier Calender boats (2012) eine konventionelle, gefundene Fotografie eines Segelboots. Die Arbeit entstand in einem komplexen Verfahren, das technische Reproduktion, das Überziehen der Oberfläche mit Latex sowie dessen Entfernung nach der Bearbeitung mit Tinte umfasste. Werke wie Painting for assembly, State museum painting oder Chinese philosophy painting (alle 2012) entstanden, indem der Künstler gefundene Gemälde von geringem historischen Wert verkehrt herum auf die Originalrahmen aufzog, um die leere, unbemalte Oberfläche zu offenbaren und sie für die Herstellung neuer Lackmalereien zu verwenden.

Die 16-mm-Filme sind aus unbewegten Aufnahmen von Objekten zusammengesetzt, die der Künstler gesammelt und manipuliert hat und als Sequenzen oder Begegnungen von Gegenständen inszeniert, die von gefundenen Objekten über Zeichnungen und Bilderrahmen bis zu fotografischen Abzügen reichen können. Sietsemas Interesse am Begriff der Arbeit korrespondiert mit seiner Untersuchung der Materialeigenschaften von Bildern aus der vordigitalen Zeit, die untrennbar mit ihren Trägern verbunden sind und Spuren der Abnutzung und der allmählichen Verwandlung aufweisen ‒ wie etwa Zelluloidstreifen und Fotopapier. Die aufwendige Bearbeitung der Objekte, die dem fertigen Kunstwerk vorausgeht, stellt einen Bezug zu ihrer Funktion und ihrer Geschichte her. Die Gegebenheiten der Herstellung der Objekte werden gerade durch deren sorgsame Zergliederung im Atelier kenntlich gemacht, in Prozeduren, zu denen er oft jüngere Künstler einlädt. Sie entstehen damit in pluraler Autorschaft, während die Fehler, die von den Neulingen gemacht werden, Teil des Endergebnisses werden.

Paul Sietsema nutzt sein Atelier nicht als Arbeitsstätte, wo Ideen physische Form annehmen, sondern als eine Allegorie der Arbeit und als „Druckmaschine“ für Ideen und Dinge, als Ort, an dem die generative und transformative Grammatik der Produktion sichtbar wird. In einem ersten Schritt werden etwa die physischen Grundbestandteile eines Gemäldes oder einer Zeichnung, wie zum Beispiel der Keilrahmen, das Trägerpapier, Rahmen und Glas, bloßgelegt. So auch in dem neuen Film Encre Chine (2012), der eine Auswahl von Bilderrahmen und anderem kulturellen Ausschuss aus Sietsemas reicher Sammlung zeigt, die auf einem Arbeitstisch ausgebreitet und mit einer Schicht dickflüssiger schwarzer Tinte bedeckt sind. Dieser Prozess der Transformation ‒ von spezifischen Objekten mit einer spezifischen Geschichte und einer denkbaren Ikonografie in einen See aus schwarzer Tinte, der das Individuelle der Objekte auslöscht und an ein Lavafeld erinnert ‒ lässt sich mit dem Akt des Benennens, oder vielmehr des Umbenennens, einstmals vertrauter Dinge vergleichen. An ihrer Stelle entsteht eine andere Art von „Dinghaftigkeit“, in der die Geschichtlichkeit der einzel- nen Objekte sich in die opake Tiefe eines schwarzen, monochromen Reliefs auflöst, ähnlich wie eine mit Schlamm bedeckte Landschaft nach der Flut. Der zweite Film in der Ausstellung, Telegraph (2012), präsentiert die Worte „LETTER TO A YOUNG PAINTER“, wobei jeweils nur ein Buchstabe gleichzeitig zu sehen ist, um in einer langsamen Abfolge durch den nächsten ersetzt zu werden. Die Buchstaben sind aus Holzstücken „gebaut“, die von Grundstücken in New Orleans stammen, auf denen Hurrikan Katrina Häuser zerstörte. In diesem wie in anderen Filmen von Sietsema gibt es fast keine narrative Entwicklung, sondern vielmehr eine diachrone Struktur ‒ ähnlich der eines Satzes ‒ die durch die zeitliche Aneinanderreihung isolierter Bilder entsteht.

Sietsemas Arbeitsprozess dreht sich wesentlich immer darum, das Bild und dessen Träger umzuarbeiten ‒ oder sich in sie hineinzuarbeiten. Somit tritt an die Stelle der Banalität oder des historischen oder emotionalen Werts, den das jeweilige „Original“-Bild oder Objekt gehabt haben mag, das Kunstwerk, das neu ist, auch wenn es einige Eigenschaften des „Originals“ bewahrt, und das, während es den dem Ausgangsmaterial innewohnenden „Wert“ um einiges vermindert, ihn zugleich erhöht. Sietsema behandelt Bilder als Tatsachen, die zu untersuchen sind und deren Bedeutungen wesentlich erweitert werden können. In der Ausstellung wird eine Gruppe von Arbeiten gezeigt, für die der Künstler Zeitungsseiten mit ihrer üblichen Mischung von aktuellen Ereignissen aus Politik, Kultur und Unterhaltung aufwendig von Hand kopiert hat, die teilweise durch Abbildungen von Objekten, zumeist Malwerkzeugen, verdeckt werden und mit Farbspritzern übersät oder umsäumt sind. Diese Arbeiten, wie etwa Untitled figure ground study (Degas/Obama) oder Untitled figure ground study (facing German suffering) (beide 2011), schaffen ein beunruhigendes Wechselspiel auf der flachen Oberfläche der Zeitung mit ihren inzwischen historischen, einst „brandneuen“ Nachrichten.

Im letzten Saal werden vier großformatige Bilder in Tinte auf Papier gezeigt, die alle 2012 entstanden. Drei von ihnen ‒ Light fall 1 (plume), Light fall 2 (cutting daisies) und Light fall 3 (leaflet drop) ‒ basieren auf Illustrationen aus einem Buch, das in den 1950er Jahren vom New Yorker MoMA herausgegeben wurde und unter anderem Zeichnungen enthält, die Museumsbesucher in Reaktion auf die ausgestellten Gemälde des abstrakten Expressionismus angefertigt hatten. Die Titel spielen auf Kriegsereignisse an ‒ der „Daisy Cutter“ ist eine amerikanische Bombe, die in Vietnam und in Afghanistan zum Einsatz kam, um in Waldgebieten Lichtungen für Hubschrauber-Landeplätze zu schaffen, „plume“ (Rauchfahne) und „leaflet drops“ (Abwurf von Flugblättern) lassen an Zerstörung und Propaganda denken. Die vierte Arbeit, ebenfalls mit Tinte auf Papier ausgeführt, Untitled vertical array, zeigt die Grundelemente der Malerei, den Bilderrahmen, den Keilrahmen, das Trägerpapier sowie Hammer und Meißel, zwei praktische Werkzeuge aus dem Atelier des Künstlers, die zur Zerlegung von Bildern dienen, hier möglicherweise aber auch anstelle von Hammer und Sichel stehen.

only in german

Paul Sietsema