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Philippe Rahm schlägt eine Neudefinition der architektonischen Mittel vor, die auf dem Verschwinden der physischen Grenzen zwischen Raum und Organismus beruht und sich auf Erkenntnisse aus der Biologie und den Neurowissenschaften beruft. Er bringt eine vierte Dimension in die Architektur, die physische, biologische, elektromagnetische und chemische Einflüsse auf den Menschen untersucht. Der menschliche Körper als architektonisches Element.

Dabei steht nicht die Materialität des Raumes im Vordergrund sondern Faktoren, die oft ausserhalb unseres direkten Wahrnehmungsspektrums liegen aber gleichwohl Einfluss auf unser Raum- und Körperempfinden haben. Damit beginnt eine spielerische aber auch kritische Auseinandersetzung mit einem Naturbegriff.

«Bei meinen Projekten macht die Information keine Umwege über traditionelle Formen der Kommunikation wie Analogie, Poetik, Ästhetik oder Rhetorik, sondern nimmt den kürzesten Weg – den über die physiologische Rezeption», so Rahm in einem Gespräch mit Rahel Hartmann Schweizer im Tec21 (43/2004).

In klaren Worten beschreibt der Titel einer ab Oktober zu sehenden Ausstellung von Philippe Rahm, im Canadian Center for Architecture in Montreal, sein Interesse: ”Form and function follow climate”.

Die Einführung der Strassenlaterne im 19. Jahrhundert war der Anfangspunkt einer bedeutenden gesellschaftlichen und politischen Veränderung des urbanen Umfelds. Der Tag wurde in die Nacht verlängert.

Gleichzeitig mit dem Einzug der Strassenbeleuchtung entstanden neue urbane Strukturen wie Boulevards. Daraus ergaben sich auch neue Verhaltensweisen der Stadtbewohner: Das Bummeln auf der Strasse beim Eindunkeln oder auch das Nachtwandeln. Jules Verne, Villiers de L‘Isle Adam und andere Autoren des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschrieben, wie wichtig das Moment des Verschwindens der Nacht war. Das Erhellen der Stadt während der Nacht war ein erster Schritt in die Moderne. Für Heidegger war es der Beginn einer Perversion der Gewalt gegen den natürlichen, klimatischen Zyklus.

Die erste Gaslaterne wurde 1812 in London aufgestellt. Fast zur gleichen Zeit, 1814, entstanden die ersten ”Nocturnes” (Nachtstücke) – zarte und melodiöse, einsätzige Klavierstücke. Der irischer Pianist und Komponist John Field gilt als Erfinder dieser “Nocturnes”. In diesem Sinne können sie auch als erste moderne Figuren verstanden werden.

Das Projekt “Diurnes for the piano” in der GALLERIA LAURIN hat ein ähnliches Ziel, geht jedoch der Moderne folgend über sie selbst hinaus: Rahm holt die Nacht in den Tag. “Diurnes” will einen physischen negativen Raum des Tages herstellen. Dies ist eine widernatürliche Antwort auf die Moderne mit ihrer fortwährenden Verlängerung des Tages in der Nacht hinein, die heute noch verstärkt wird durch das Internet und die Globalisierung.

Nach dem “noctambulism” (Nachtwandeln) schlägt uns Philippe Rahm nun den “diambulism” (Tagwandeln) vor. Die “Diurnes for the piano” sind somit ein erstes Element von Philippe Rahms Projekt - eine spektrale Inversion der “18 nocturnes” von John Field. Rahm hat die Partitionen von Fields Stücken umgekehrt. Er verdoppelt somit den Kunstcharakter der Aufführung und Darstellung.

Eine zweite Ebene der Installation von Philippe Rahm ist die physiologische Empfindung des Ausstellungsraums. Das im Gehirn produzierte Hormon Melatonin ist für den Tag-Nacht-Rhythmus wichtig. Bei Tageslicht/Helligkeit wird die Herstellung von Melatonin unterdrückt, während das Hormon bei Dunkelheit vermehrt ins Blut gelangt und schlaffördernd wirkt. Neue Erkenntnisse zeigen, dass die biologische Uhr des menschlichen Körpers am stärksten auf die blau-grüne Region des Lichtspektrums reagiert, d.h. zwischen 400 und 500 Nanometer. Ein Team von kanadischen Wissenschaftlern (A. Sasseville, N. Paquet J. Sévigny, und M. Hébert, Laval University Laval-CHUL Research Centre, Quebec City, Kanada) hat 2005 herausgefunden, dass mittels eines Geld/Orange-Filters, welcher nur das blau-grüne Spektrums des Lichtes ausgrenzt, den Rest jedoch durchlässt, die Melatoninproduktion im Körpers verstärkt wird. Ein solches Licht wirkt demnach schlaffördernd.

Durch das Ausfiltern des in den Ausstellungsraum fallende Lichtes mittels gelben Folien auf den Schaufenstern, stellt Philippe Rahm in der GALLERIA LAURIN eine künstliche Nacht her, er produziert eine physiologische Nacht, das heisst, er holt die Nacht in den Tag.

Philippe Rahm studierte an der Eidg. Technischen Hochschule in Lausanne und Zürich Architektur. Bis im Jahr 2004 arbeitete er gemeinsam mit Jean-Gilles Décosterd im Büro “Décosterd & Rahm, associés”, in Lausanne und Paris. Das Schaffen der beiden wurde in den letzten Jahren in zahlreichen Wettbewerben ausgezeichnet und in mehreren Ausstellungen in Europa sowie in den USA vorgestellt. Unter anderem mir der Installation “Hormonorium” an der Biennale in Venedig im Jahr 2002, die Installation “Melatonin Room” im Museum of Modern Art in San Francisco. Sie hatten Projekte an der Tirana Biennial 2001, Valencia Biennial 2003; Lisbon Biennial 2003, Graz Biennial 2003; CCA Kitakyushu 2004, Mori art museum 2005, Centre Culturel Suisse Paris 2005, Centre Pompidou Paris 2003-2006, Kunsthaus Graz 2006. Unter anderem arbeiteten Décosterd & Rahm auch an einem Haus Namens “Jardin d’Hybert” für den französischen Künstler Fabrice Hybert.

Philippe Rahm unterrichtet im Unit 13 der „AA School“ in London und ist Professor an der ECAL Lausanne. Er war im Jahr 2003 Visiting Professor an der Ecole Nationale Supérieure des Beaux-Arts in Paris, 2005 in der Mendrisio Academy of Architecture. Momentan arbeitet er an diversen Projekten in Frankreich, Polen, England und Österreich.

Philippe Rahm möchte sich für die Hilfe an der Konzeption von “Diurnes” bei folgenden Personen bedanken: Anna Wirz-Justice (Professorin “Centre for Chronobiology”, Universität Basel), Alexandros Markeas (Komponist in Paris, der mit ihm als erster die Inversion der Nocturnes diskutiert hat) und Juan Camilo Hernandez (Musiker aus Paris, Gewinner der “National Competition of the Colombian Cultural Ministry”, welcher die 18 nocturnes von John Field in die 18 diurnes transkribiert hat).

GALLERIA LAURIN bedankt sich bei Fabian von Desert Design, Martin Rutz und Roger Hochstrasser, und dem Pianorama in Schüpfen.

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Philippe Rahm: Diurnes