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Köln geriet zuletzt aus den falschen Gründen in die Schlagzeilen. In der Silvesternacht wurden Frauen im Bereich des Kölner Hauptbahnhofs in großer Zahl Opfer sexueller Gewalt. Die Täter waren „offenkundig junge Männer nordafrikanischer und arabischer Herkunft“, wie beispielsweise die prominenten Verfasser der Kölner Botschaft vom 22. Januar 2016 betonten. Daraufhin ist unter dem Schlagwort „nach Köln“ eine hitzige Diskussion über die Zukunft der gesamten deutschen Migrationspolitik entbrannt.

Aufrufe, die Grenzen zu schließen, werden mit Aufrufen zu noch mehr Toleranz gekontert. Wiederbelebte rassistische Argumente stellen ganze Communitys unter Generalverdacht, während tatsächlich bestehende soziale Probleme schlicht ignoriert werden. Was geht in Köln wirklich vor?

Wie viele Städte des Westens verdrängt Köln die Erinnerungen an die Kolonialherrschaft, gleichzeitig wird die Gegenwart der Stadt zunehmend von verschiedenen Migrationswellen geprägt. In dieser neuartigen Situation treten alte, fraglos rassistische Machtverhältnisse wieder zutage und führen zu immer brisanter werdenden Konflikten. Die Akademie der Künste der Welt hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich mit derartigen Machtverhältnissen innerhalb des kulturellen Betätigungsfeldes zu beschäftigen. Kultur ist noch immer eine weitgehend eurozentrische Angelegenheit, ganz auf den Geschmack der Mittelschicht zugeschnitten. Und wenn sie die Folgen imperialer Herrschaft thematisiert, dann mit einem ziemlich selbstgerechten Blick darauf. Unsere Aufgabe besteht darin, dieser Sichtweise entgegenzuwirken. Wir möchten einen Raum schaffen für interkulturelle Debatten und eine Vielfalt von Stimmen, der Kritik an den strukturellen Ungleichheiten und Ausgrenzungen infolge des europäischen Standardblicks auf die Welt ermöglicht. Wir möchten Alternativen zu Vereinfachung und Stereotypisierung aufzeigen.

Die zweimal jährlich stattfindende PLURIVERSALE präsentiert im ACADEMYSPACE und an verschiedenen anderen Orten in Köln ihr umfangreiches Programm. Die vierte Ausgabe läuft von März bis Juni und bietet spannende Diskussionen, Performances, Filmvorführungen, Konzerte, eine Oper und eine Ausstellung. Dabei rückt auch die Stadt Köln selbst mitsamt ihrer Vergangenheit und ihrer aktuellen Situation in den Fokus der Betrachtung.

Die Saison beginnt mit der JUNGEN AKADEMIE, deren Fellows zusammen mit dem Gastkurator ULF AMINDE in einer Reihe von Workshops Theorien, Praktiken und Debatten um den kontroversen Begriff „Critical Whiteness“ aufgreifen, der während des No Border Camp 2012 in Köln eine hitzige Diskussion auslöste. Das wachsende Bewusstsein für Kölns eigene koloniale Vergangenheit ist der Ausgangspunkt der Ausstellung Afrikahafenfest der beiden Kölner Künstler PETER GÜLLENSTERN und JÜRGEN STOLLHANS, die der Verflechtung von Modernisierung und kolonialer Repräsentation an den Ufern des Rheins auf den Grund gehen. Die Filmemacherin PASCALE OBOLO präsentiert ihr Work-in-Progress über das auf unheimliche Weise romantische Schloss von Puttkamer, die ehemalige Residenz des deutschen Gouverneurs in Kamerun. Später in der Saison diskutiert der Künstler PHILIP KOJO METZ mit JOSHUA KWESI AIKINS und CHRISTOPH BIERMANN über seine jüngste Arbeit, in der er anhand eines Fußballspiels über Stellvertreterkriege zwischen Kolonialmächten nachdenkt. Die Historiker JÜRGEN ZIMMERER und MARIANNE BECHHAUS-GERST beleuchten in ihren Vorträgen, warum die Geschichte von Herrschaft und Diaspora noch immer weitgehend verdrängt wird.

Die Wissensproduktion selbst bedarf der Dekolonialisierung, stellt GRADA KILOMBA in ihrer Lecture Performance fest, gefolgt von einem Konzert der Post-Weltmusik-Band GALA DROP. Was sind die Folgen der sogenannten „Flüchtlingskrise“? Wohin bewegt sich Europa? Wie ehrlich gemeint sind „Toleranz“ und „Willkommenskultur“, auf die in den letzten Monaten ständig verwiesen wurde? Was passiert nach den Übergriffen am Kölner Hauptbahnhof? Das neue, nicht-hierarchische OPEN FORUM befasst sich mit all diesen Fragen. Die sexualisierte Gewalt in der Silvesternacht und ihre Folgen sind Thema eines Symposiums mit NORA AMIN, KÜBRA GÜMÜŞAY, NOAH SOW, ANNE WIZOREK und anderen. Interkulturelle Wissenschaftler und Aktivisten wie KIEN NGHI HA, MARK TERKESSIDIS und MILTIADIS OULIOS untersuchen in einem gemeinsamen Gespräch Deutschlands „Integrationspolitik“ und ihr missionarisch anmutendes Aufdrängen „europäischer Werte“. REX OSA, BAHAREH SHARIFI, SINTHUJAN VARATHARAJAH und andere ergründen das Potenzial der selten zu hörenden Stimmen von Postmigranten. Der Philosoph SREĆKO HORVAT setzt sich mit dem in Europa umgehenden „Gespenst der Migration“ auseinander. Migration führt nicht nur in Europa zu neuen Formen von Xenophobie, wie ein Vortrag des Autors FRED KHUMALO über die aktuelle Debatte in Südafrika zeigt.

Wie wirkt Kunst neuen Formen sozialer Ausgrenzung entgegen, wie geht sie gegen strukturellen Rassismus vor, wie dekonstruiert sie nationale Identität? Der Theoretiker NIKOS PAPASTERGIADIS untersucht die diasporischen Elemente des ästhetischen Kosmopolitismus, während CHRISTOPHER KIRKLEY von seiner Zusammenarbeit mit einem Tuareg-Gitarrenhelden bei der Produktion eines crowd-finanzierten Remakes von Prince’ Purple Rain berichtet. Die auf Texten des polnischen Schriftstellers Bruno Schulz basierende neue Oper von Akademiemitglied und Komponistin LIZA LIM feiert ihre Premiere. RENZO MARTENS, EVA BAROIS DE CAEVEL und FRANÇOISE VERGÈS beleuchten die Arbeit des Cercle d’Art des Travailleurs de Plantations Congolaises, der westliche Vertriebsstrukturen mit traditionellen Praktiken konfrontiert, und untersuchen Alternativen zu NGO-ähnlicher, oftmals neokolonialer Hilfe.

Eine Mini-Retrospektive mit Filmen der ägyptischen Künstlerin MAHA MAAMOUN zeigt, wie es Künstlern gelingt, produktiv Nationalismen zu verfremden, die die visuelle Kultur im Zuge der Befreiungsprozesse durchdringen. Ist es möglich, eine neokoloniale Zukunft zu verhindern, wie sie vom NATURE THEATER OF OKLAHOMA zum Ende der PLURIVERSALE Ⅳ in einer partizipatorischen Filmperformance heraufbeschworen wird, die das Publikum dazu einlädt, sich Köln im Jahr 2071 vorzustellen, wo man menschlich wirkende Außerirdische wegen ihres schmackhaften Fleisches importiert? Um dies zu tun, brauchen wir den beißenden Humor von FOKN BOIS, deren Konzert die PLURIVERSALE abschließt.

Die PLURIVERSALE Ⅳ wird kuratiert von Ekaterina Degot und David Riff, mit Unterstützung von Léa Genoud und Nora Wiedenhöft.