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12.06.2022 - 28.08.2022
Eröffnung der Ausstellung am Samstag, den 11. Juni ab 16 Uhr

Reality is the worst-case scenario
von Philipp Timischl

Was für Auswirkungen hat es, wenn wir unsere Wirklichkeit immer stärker von Erfahrungen ausgehend definieren, die die Medien für uns generieren? Wie verändert sich die Wahrnehmung unserer Umgebung und Auffassung von sozialem Status, persönlicher Identität und Geschlechtlichkeit, wenn wir alle diese Aspekte des Lebens fortwährend mit massenmedialen Inhalten abgleichen — und das unter Befolgung von Selektionsregeln und im Einverständnis mit den Rollenvorstellungen, die diese Medien vorgeben?

Das Werk von Philipp Timischl konfrontiert uns konkret mit genau diesen Fragen. Dabei verarbeitet der Künstler persönliche Erfahrungen und setzt sie in Beziehung zu einer ganzen Bandbreite massenmedialer Themen, Genres und Motive, die er sich für seine Arbeiten zunutze macht.

Ein Beispiel hierfür ist die in der Ausstellung gezeigte LED-Skulptur ›Kim and Kourtney FIGHT over Work Ethic‹ aus dem Jahr 2021, die neben Pelzimitat und Sprühfarbe insbesondere einen Clip der Serie ›Keeping up with the Kardashians‹ als Material verwendet (hier mit Kim und Kourtney Kardashian). In der gewählten Szene streiten die beiden Millionärinnen und Schwestern über ihre Arbeitsmoral: während eine der beiden ihre Mutter stolz machen möchte, hält ihr die andere entgegen, lieber selbst eine gute Mutter sein zu wollen. Indem Timischl die Geschwindigkeit des Videos um die Hälfte reduziert, verleiht er den einzelnen Aussagen des Dialogs eine außerordentliche Präsenz und absurde Poesie. Hier geht es um den Diskurs der Aneignung und Auslegung von gesellschaftlichen Codes respektive der Richtlinien des sogenannten geltenden guten Geschmacks, der die soziale Position von Menschen markiert und über deren Inklusion oder Exklusion entscheidet. Dies wird besonders dann spürbar, wenn Timischl sich als Dragqueen performativ und fotografisch in Kontexten der Hochkultur und des Kunstbetriebs inszeniert. Dabei zeigt er die subtilen Grenzen bürgerlicher Klassen gerade durch den bewussten Bruch respektive dem Spiel mit der gewollten Verfehlung der jeweils als legitim angenommenen oder behaupteten vorherrschenden Codierung.

Im Zentrum der Ausstellung steht die Premiere der spektakulären neuen LED-Skulptur ›Reality is the worst-case scenario, LA to NY (Austin)‹ von 2022. Das Werk basiert auf kurzen, in extrem raschen Takt geschnittenen Videosequenzen, die während einer mehrwöchigen Autoreise des Künstlers und Freund:innen quer durch die USA aufgenommen wurden. Die raumgreifende Videowand wurde von Timischl auf den Ausstellungsraum des Heidelberger Kunstvereins zugeschnitten und konfrontiert die Betrachter:innen mit einer komplexen Montage unterschiedlichster, sich überlappender Informationen. Zu den gefilmten Landschaften respektive urbanen und suburbanen Umgebungen kommen analog zur raschen Schnittfolge noch Gesprächsfetzen der Reisenden wie auch die Songs aus dem permanent laufenden Autoradio. Diese verschiedenen Audiospuren werden wiederum als Untertitel in das Bild eingeblendet. Des Weiteren zeigt Timischl dazu parallel auf einem synchronisierten Bildschirm Kartenansichten, die ähnlich einem Navigationssystem den jeweiligen Stand des Reiseverlaufs anzeigen. Kurzum: zu viele Informationen, um von den Besucher:innen in Gänze aufgenommen werden zu können. Die Rezeption muss zwischen mehrfachen Text, Bild und Audiospuren selektieren. Die fragmentierten Dialoge schneiden verschiedenste Themen an. Ihre Bandbreite scheint schier unendlich, teils willkürlich und extrem komprimiert: Der Tod, das Leben und Benzinpreise. Religion, Freundschaft und Beyoncé. Massentierhaltung, unbezahlte Arbeit und das Wetter. Parallel singt Beyoncé: ›I was here, I live.‹

Durch das Spiel mit dem Überfluss von Information suggeriert Timischl zunächst, hier würde real eine stereotypische USA-Reise dargestellt. Bei längerer Betrachtung der Arbeit stellt sich jedoch die Frage, ob diese Realität nicht vielleicht doch nur vorgetäuscht ist? Denn in der Arbeit häufen sich überraschende Koinzidenzen: im Auto erzählt eine Mitreisende, dass sie einen unbezahlten Praktikumsplatz nicht erhielt, weil sie angeblich nicht genug Interesse daran gezeigt hatte. Währenddessen hört man im Autoradio Ushers: ›Get that Money, Money, Money‹. Oder kann es Zufall sein, dass das Auto an einem Feld mit Erdölpumpen in Texas vorbeifährt, während die Reisegruppe feststellt, dass der Tank schon wieder leer sei? Und im selben Moment ein Song von Marvin Gaye verkündet: ›You see, war is not the answer?‹

Ist das Video also wirklich so dokumentarisch, wie es zu sein vorgibt?

Ist man durch Timischls Arbeit einmal für diese Art von Phänomenen sensibilisiert, verbirgt sich plötzlich hinter jedem noch so flüchtigen Bild/Ton-Schnipsel der Wirklichkeit zumindest potenziell ein Inszenierungszusammenhang, eine medial vermittelte Realität. Aber muss etwas unwahr sein, nur weil es vielleicht eine Fälschung ist? Oder ist es gerade ihre Inszenierung, die die Realität heute glaubwürdig macht?

Zum Künstler:

Philipp Timischl (geb. 1989) lebt und arbeitet in Paris und studierte an der Akademie der bildenden Künste Wien und der Städelschule in Frankfurt am Main. 2012 gründete er gemeinsam mit Daphne Ahlers und Roland M. Gaberz den Ausstellungsraum HHDM (Hinter Haus des Meeres) in Wien.

Philipp Timischls Arbeit wurde in Medien wie frieze, Mousse, Art Viewer, ArtDaily oder Art Review vorgestellt.

Seine Arbeiten werden derzeit im MAK Museum für angewandte Kunst/ Gegenwartskunst in Wien in der Gruppenausstellung ›Space as a Medium of Art‹ gezeigt.

Bedeutende Ausstellungen und Projekte u. A.: ›Cruising Pavilion, Fuck You Be Nice‹ (Air de Paris, 2020); ›Letzte Lockerung‹ (Kunsthalle Bern, 2019); ›Philipp Timischl: Artworks For All Age Groups‹ (Wiener Secession, 2018) ›My masters, my gods‹ (Neue alte Brücke, Frankfurt M Main, 2018).