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„Report on Probability A“ ist der Titel eines Buchs von Brian Aldiss aus dem Jahr 1968, welches die Technik des Nouveau Roman, von mehreren Standpunkten aus zu erzählen, anwendet, um eine mehrdeutige Geschichte zu präsentieren, die sich um die banalen, fast trivialen Aktivitäten einiger Protagonisten herum entwickelt. Das zusätzliche Auftauchen von Ausserirdischen, die von „da draussen“ zusehen, fungiert weiter zur Vermittlung des Plots, in dem eine allegorische Szene des Präraffaeliten William Holman Hunt, The Hireling Sheperd, als zentraler Punkt hartnäckig präsent ist, oder vielleicht nur als Fluchtpunkt der trockenen beschreibenden Prosa. Das von Goethe stammende Motto der Erzählung hätte auch von John Clare oder Robert Walser kommen können: „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.“ Es scheint uns zu sagen, dass wir, anstatt die Bedeutung der Erzählung zu untersuchen, lernen sollten, in ihr nicht mehr als die Wesentlichkeit von Ereignissen zu erkennen, die ewig sich ändernden Fakten.

In der Wissenschaft werden neue Ideen und Erfindungen nur für eine zukünftige Verwendung gestaltet, da die technische Entwicklung Zeit braucht, die revolutionären abstrakten Konzepte einzuholen. Die unwahrscheinlichsten Ideen, oft futuristisch genannt, sind in Science-Fiction-Büchern zu finden: die Zeitmaschine, drahtlose Kommunikation, der Flug zum Mond, Reisen zum Mittelpunkt der Erde, Teleportation und Begegnungen der dritten Art. In der Science Fiction existiert die Zukunft als Projekt, das realisiert werden kann, oder auch nicht. In der Geschichte muss man innerhalb von etwas, was erstmal ein Gemisch beliebiger, aus der Vergangenheit abgerufener Vorfälle zu sein scheint, nach Richtungen suchen. Und was wäre mit History Fiction, Geschichte als Fiktion?

Report on Probability ist ein erzählerischer Hybrid, der versucht, Geschichte auf einem Fundament unerfüllter Möglichkeiten zu etablieren und zu unserem Vorteil zu wenden. Diese Art des Erzählens von Geschichte bevorzugt ein „als ob…“ anstelle eines „es war…“. Der neutrale Bericht ist eine Vorgehensweise, welche eingesetzt wird, um den Fakten eine definitive Struktur geben zu können und sie durch eine strikte chronologische Ordnung aus dem Vergessen heraus zu führen. Wenn der Report auf „Wahrscheinlichkeiten“ angewendet wird und nicht auf allgemein akzeptierten Tatsachen, wird er zu einer spekulativen Übung, „Zukunft-in-der-Vergangenheit“ zu denken. Dadurch wird der intuitive und assoziative Sinn mobilisiert, um das aufzudecken, was sonst unterdrückt und vergessen geblieben wäre.

In der zeitgenössischen Kunst, wenigstens seit dem Beginn dieses Jahrhunderts, klingt das schwache Echo von Möglichkeit aus der Geschichte heraus nach: Es erscheint als Fabel, Parabel oder als erfundener Beweis, die Form von „Fictionary“ annehmend (Liste fiktiver Worte oder fiktiver Definitionen), eine Aufzeichnung von Dingen und Zeiten, die nicht waren, sich oft in ethisch ambivalente Gewänder von Wiederholung, Stilisierung, Persiflage und Aneignung kleidend. Dieser umständliche historische Weg – diese Insel der Möglichkeiten einer früheren Dekade, die den Wechsel proklamierte, ihn aber endlos in die Zukunft verlegte, sodass er niemals stattfand – scheint jede solide Utopie ersetzt zu haben. Gefangen zwischen der politischen Enttäuschung über das Hier und Jetzt und einer entzauberten Haltung gegenüber den Versprechungen der Zukunft, haben Künstler und Künstlerinnen den neuen Ort der Möglichkeit in alternativen Deutungen der Geschichte erkannt. Dazu gehört ebenfalls das Editieren bestehenden kulturellen Materials – eine Lektion, die vom gegenwärtigen Augenblick motiviert und in ihn eingebettet ist. Dieses Nachdenken über verlorene Geschichte ist paradoxerweise ein pionierhaftes Unterfangen, da es kein vordefiniertes Ziel hat, sondern eher versucht zu beleben, was bisher verknöcherte, gelähmte, kanonisierte und erfolgreich neutralisierte Versionen von Geschichte waren. Es scheint auch, als könnten wir in diesen Versuchen einen kurzen Blick darauf bekommen, wie der Widerspruch zwischen der für die Künstler bestehenden Notwendigkeit, Formen kritischer und politischer Beteiligung in der gesamten Gesellschaft zu finden, und dem Imperativ ästhetischer Autonomie abzuschaffen wäre. Die genaue und kritische Deutung der Vergangenheit kann, vielleicht, einen Weg aus der Sackgasse weisen.

Die Ausstellung Report on Probability präsentiert Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern, die eine Vielzahl von Ansätzen anwenden, um einige Passagen und Momente in der Geschichte der Moderne zu kommentieren (wobei sie sich nicht notwendigerweise auf die Stile und die Ästhetik des „Modernismus“ einlassen), die in der Gegenwart eine Wirksamkeit zu haben scheinen.

Anna Niesterowicz & Lukasz Gutts Film The Minstrel Show (2009) übernimmt eine amerikanische Unterhaltungsform, die in den 1830er Jahren aufkam und in der schwarz geschminkte Weisse burleske oder musikalische Stücke aufführten. Obwohl die Minstrel-Shows ihre ursprüngliche Beliebtheit gegen Ende des 19. Jahrhunderts verloren haben, spielten sie bei der Formung von Stereotypen über Schwarze bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine Rolle, denn die schwarz geschminkten weissen Darsteller tauchten auch weiterhin in Fernsehshows und anderen beliebten Unterhaltungsarten auf. Niesterowicz & Gutt inszenierten die Aufführung eines Frank Sinatra-Songs durch eine schwarz geschminkte Big Band im S1 Studio des polnischen Radios, in dem seit der Gründung des Studios 1991 viele herausragende Aufnahmen klassischer und experimenteller Musik entstanden sind.

Sven Augustijnens Film Le Guide du Parc (2001) nimmt die Zuschauer mit auf einen 40-minütigen Spaziergang durch den Parc Royal in Brüssel. Als Dokumentation einer inszenierten Besichtigungstour zeigt die Arbeit einen Führer, der eine alternative Geschichte des Parks erzählt. Seinen Schritten folgend besuchen wir Alleen und entdecken Verstecke, die sich als Cruisingtreffpunkte von Schwulen entpuppen. Die von den Erzählungen des Führers offen gelegten Bedeutungen unterlaufen die standardgemässe Interpretation der Landschaftsarchitektur als vollständig kontrollierte, ästhetisch ansprechende Umgebung. Mit dem Einbruch der Nacht über den Park tauchen Momente des Schweigens in der Geschichte des Führers auf und was zuerst enthüllbar schien, zieht sich wieder in Unklarheit zurück. Augustijnens L’Histoire Belge (2007), eine Serie von 10 Offsetdrucken, untersucht mit Bildern und korrespondieren Texten, die sich scheinbar auf historische Fakten beziehen, ausgewählte Episoden der Geschichte Belgiens und hauptsächlich dessen koloniale Expansion. Obwohl das Material in der typischen Manier von Archivdokumenten oder eines historischen „Albums“ präsentiert wird und es dadurch eine quasi-objektive Qualität bekommt, kann die Wahrheit nicht einfach bestätigt werden und eine Lücke zwischen Bild und Text öffnet sich, die anderen Deutungen Einlass gewährt.

The Future Was When? (2009) ist ein neuer Film von Patricia Esquivias, der auf den Parallelen zwischen ihr und Susan S. Brown basiert, einer Künstlerin, welche die Mosaike in der New Yorker Untergrundbahn erst illegal und später legal restauriert hat. Durch Esquivias’ typisches informelles Voiceover wird die Geschichte der Restauration dieser zur öffentlichen Infrastruktur gehörenden Kunstwerke zur Parabel – ein Vorwand, um die Geschichte der Städte New York und Madrid mit dokumentarischen Bildern und zusätzlichem Archivmaterial neu zu erzählen. Der Film, eine Studie in zeitgenössischer urbaner Archäologie, überlagert die exakten Details zweier persönlicher Geschichten mit einem grösseren historischen Panorama. Die lineare (Kunst-)Geschichte mündet in einem diskontinuierlichen Pfad individueller Erinnerungen, erzählerischer Seitenlinien und anekdotischer Informationen, aus dem ein anderes Bild der Städte auftaucht, eine buchstäblich im Untergrund versteckte „Zukunft, die war“. Einige von Browns Mosaikreproduktionen, entstanden nach Esquivias’ Fotografien der Restaurationen von Kacheln in der Untergrundband Madrids, werden zusammen mit dem Film präsentiert.

Runo Lagomarsinos Installation Las Casas Is Not a Home (2009) zeigt Fotografien einer Tapete, die in einem Dorfrestaurant in Oetlingen bei Basel erhalten geblieben ist: das „Inka Panorama“, basierend auf dem Bestseller „Les Incas, ou La Destruction de l’Empire du Pérou“ (1777) von J.-F. Marmontel, einem französischen Schriftsteller der Aufklärung. Die Tapete wurde um 1820 von Dufour & Leroy in Paris hergestellt, den führenden Tapetenproduzenten der damaligen Zeit. Einer der dargestellten Charaktere ist Bartolomé de Las Casas (1486-1566), ein spanischer Dominikanerpriester, der 1502 zur Insel Hispaniola gebracht wurde und seitdem die Gräueltaten spanischer Kolonialisten an den Eingeborenen miterlebte. Im Jahr 1550 trat Las Casas in eine als „Disput von Valladolid“ bekannt gewordene Debatte mit dem Philosophen und Theologen Juan Ginés de Sepúlveda, in der er dessen Verständnis der Indianer als „natürliche Sklaven“ entschieden entgegentrat. Lagomarsinos Installation beinhaltet Objekte und Dokumente, die sich auf die doppelte Bedeutung von „Las Casas“ beziehen – der Familienname des Geistlichen und das spanische Wort für „Heim/Zuhause“.

Die Videoinstallation After School Special (2009) und eine Reihe von Zeichnungen von Corin Sworn konzentriert sich auf die Jugendrevolte, ein populäres Motiv in Film und Literatur des 20. Jahrhunderts. Eine Jugend, welche die Macht übernimmt – ein zeitgenössischer Umriss des klassischen Topos der Welt „à rebours“ – wurde in William Goldings Buch „Herr der Fliegen“ (1954, mit einer 1963 folgenden Verfilmung von Peter Brook) portraitiert, ebenso in Lindsay Andersons Film „If….“ aus dem Jahre 1968, wie auch in Jonathan Kaplans weniger bekanntem Film „Over the Edge“ (1979), der in der geplanten Gemeinschaft „New Granada“ spielt, die in einer Wüste liegt und in der die vernachlässigten und gelangweilten Kinder vorhersehbar die Kontrolle „übernehmen“. Corin Sworns Arbeit ist eine Überarbeitung, die den Originalfilm in eine kompakte, halbabstrakte und phantastische Studie eines klischeehaften Genres transformiert. Gleichzeitig weckt sie Hoffnungen auf eine bessere, autonome Mikro-Gesellschaft, die in der Mainstream-Kultur begraben und neutralisiert wurden.

Die letzten Tage der Gegenwart (2006) von Andreas Bunte ist eine Filminstallation, die aus zwei 16mm-Projektionen in einem rudimentären architektonischen Setting sowie aus einer Gruppe von Collagen besteht. Ein Film zeigt das Interieur einer Wohnung, die anscheinend von ihren Bewohnern verlassen wurde – überfüllte Aschenbecher, Stapel von Papier, Büchern und Unordnung in einer Wohngemeinschaft – oder vielleicht das Quartier einer terroristischen Zelle. Der andere Film dagegen richtet seine Aufmerksamkeit auf öffentliche Bereiche und Gebäude – darunter eine Kirche und eine Universität. Die Arbeit stellt einem verdichteten privaten Raum, der einem spezifischen Zweck dient und von menschlicher Anwesenheit gekennzeichnet ist, die Undurchsichtigkeit öffentlicher Bereiche gegenüber, verkörpert durch Architekturen der Autorität. Der flüchtige Moment ist in der kinematischen Zeit verlängert und verschoben – die letzten Tage von dem was einst die Gegenwart war, haben ihre Zeit überschritten und nehmen definitive Formen als Allegorien ihres eigenen Ausklangs an.

Die Verschwörungstheorie wurde oft als Pseudo-Wissenschaft verurteilt, kann aber auch als eines der rhetorischen Mittel verstanden werden, die sich offizieller geschichtlicher Erzählung entgegenstellen. Ob der Tod von Prinzessin Diana von The Smiths und ihrem charismatischen Sänger Morrissey vorhergesagt werden konnte oder nicht, muss erst noch bewiesen werden. Ausgehend von gefundenem Material und im Internet, sowie unter The Smiths-Fans aus aller Welt, zirkulierenden Informationen lokalisiert Lars Laumanns Morrissey Foretelling the Death of Diana (2006) die Präfiguration von Dianas tödlichem Unfall im Jahr 1997 im 1986er Album der Smiths „The Queen is Dead“. Laumanns Film gibt einer urbanen Legende eine Form. Um ein zeitgenössisches Thema zu erzählen, bedient sich die Arbeit der mündlichen Tradition epischer Geschichtenerzählung und heroischer Lieder. Die labyrinthische Struktur des Films imitiert die wirren Emotionen des bekennenden Fans und die unstete Linie einer obsessiven Erforschung einer individuellen Biografie, die zu einem Teil des öffentlichen Bereichs geworden ist. Der Film wird erstmals in 3-Kanalton in Englisch, Französisch und Deutsch gezeigt.

The Weavers (2009) von Anna Molska ist ein Film, der auf dem gleichnamigen Sozialdrama in fünf Akten aus dem Jahr 1892 vom deutschen Autor Gerhart Hauptmann basiert. Thema des Dramas ist die Rebellion der schlesischen Weber von 1844 gegen die Armut, die harten Arbeitsbedingungen und die Ausbeutung, denen sie in den Textilfabriken ausgesetzt sind. „Wir werden das nicht länger hinnehmen!“ – der Ruf einer weiblichen Protagonistin nach Widerstand kann als Motto des Stücks dienen. Molska arbeitete mit aus Arbeitern der Kohlebergwerke in Schlesien (heute Polen) rekrutierten Laiendarstellern, die häufig arbeitslos werden, wenn die Minen wegen der Erschöpfung natürlicher Ressourcen und ökonomischer „Umstellung“ schliessen. Die drei Kumpel versammeln sich an der Feuerstelle an einer Minenhalde und beginnen ein Gespräch, in dem sie Ausdrücke aus dem naturalistischen Drama verwenden. Die Musik im Hintergrund, ebenfalls aus Hauptmanns Text zitiert, verbindet ihr Schicksal mit dem ihrer Vorfahren aus dem 19. Jahrhundert, den Webern, während der Film weitere Szenen aus der Mine zeigt.

Die Ausstellung wird kuratiert von Adam Szymczyk. Im Anschluss an die Ausstellung wird ein Katalog veröffentlicht werden.

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Report on Probability
Kurator: Adam Szymczyk

Künstler: Sven Augustijnen, Andreas Bunte, Patricia Esquivias, Runo Lagomarsino, Lars Laumann, Anna Molska, Anna Niesterowicz & Lukasz Gutt, Corin Sworn