press release only in german

Als die Regierung der Vereinigten Staaten am 5. Januar 2004 offiziell ihr US-VISIT Programm einführte, welches die Abnahme eines Fingerabdrucks sowie die fotografische Dokumentation aller US-Reisenden, die mit einem Visa auf den Flug- und Seehäfen einreisten, zur Pflicht machte, hat die Diskussion um Personalausweise und Reisepässe eine völlig neue Dimension erhalten. Das System individueller Identifikation kam bereits mit dem Beginn der Massenalphabetisierung und der offiziellen Kultur schriftlicher Archivierung auf; seine Übernahme durch Nationalstaaten aber stellt eine Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts dar. Nach der Einführung der Anthropometrie durch Alphonse Bertillon entwickelte Galton zeitgleich zum Beginn des Informationszeitalters die Identifikation via Fingerabdruck. Seit dieser Zeit sind immer ausgefeiltere digitale und biometrische Techniken zur Identitätsdokumentation erfunden worden, die daraufhin die Entwicklung eines weitreichenden Systems der Massenüberwachung ermöglicht haben. Ein wichtiger Aspekt in diesem Prozess der identifikatorischen Dokumentation ist, dass sie als eine soziale Konstruktion betrachtet werden kann, die von dem Motiv der Unterscheidung, des Ausschlusses und der Trennung innerhalb bestimmter sozialer und ethnischer Randgruppen getragen ist. Neben seiner Funktion als Identitätsstifter, steht der Personalausweis für staatliche Formen der Regulierung, für Strategien der sozialen Kontrolle, für Beschränkung und für Versuche, die Mobilität von Personen zu überwachen bzw. zu begrenzen. Das Thema der Identitätskonstruktion und das spezielle Motiv der Ausweisdokumente wurden in den letzten Jahren, mit all ihren Konsequenzen und Verwicklungen hinsichtlich ihres Ge- oder Missbrauchs, auch zunehmend für KünstlerInnen interessant, die globale gesellschaftliche Prozesse reflektieren. Die Fragestellungen reichen von den emanzipatorischen zu den repressiven Aspekten identifikatorischer Praxis wie z.B. veränderte oder gefakte Ausweisdokumente, die (Un)Möglichkeit der freien Wahl einer Identität, Illegalität, die Zuschreibung einer ethnischer Herkunft, die Authentizität von Dokumenten oder die Überschreitung von den Staatsbürgern auferlegten Grenzen.

Identitätsbildung Anny & Sibel Öztürk und Erzen Shkololli untersuchen dies anhand dem biographischen Prisma ihrer eigenen Familiengeschichte. Während die Geschwister insbesondere die kulturellen und hybriden Effekte sozialer Migration verfolgen, untersucht Shkololli die Konzepte von Tradition und Identität anhand ideologischer Symbole, die seine unterschiedlichen Lebensphasen begleitet haben. Weitere Gedanken zur Hybridität finden sich auch in den Arbeiten von Miodrag Krkobabic und Milica Tomic. Krkobabic hat seine Freunde - die alle derselben Generation, ethnischen Gruppe und sozialen Schicht angehören - gebeten, sich gegenseitig vorzustellen. Aus diesen Erzählungen resultieren 36 Identitäten. Was wäre, wenn diese Personen unterschiedlichen Altersstufen und sozialen Klassen angehörten? Tomic dagegen scheint nach einer Einheit zu suchen, kann sie ihre Identität als Serbin und orthodoxe Christin doch nur als eine gespaltene begreifen. Sie entscheidet sich dafür, öffentlich von der Position der Verletzten zu sprechen, um damit das Trauma offen zu legen, das dieser Konstruktion zu Grunde liegt. Stephen Willats stellt die Frage, wie das Individuum seinen persönlichen Lebensraum empfindet, diesen definiert und für sich lebbar macht. Seine Arbeiten beschäftigen sich mit Lebensrealitäten als interaktive und selbstorganisierende Systeme. Ein weiterer Aspekt liegt in dem gelenkten Erwerb bestimmter Identitätsmuster. In dem Film „Die Bewerbung“ zeigt Harun Farocki eine Schulungssituation, in der Personen unterschiedlicher Herkunft gelehrt wird, sich selbst anzubieten und zu veräußern. Im Bewerbungsgespräch sollte der ganze Mensch erscheinen, nicht nur seine messbare Eignung, die auf Papieren vorausgeschickt wird. Es war Kafka, der die Aufnahme in ein Arbeitsverhältnis mit den Eintritt in Gottes Reich verglich.

Strategien Fernando Alvim behauptet: „We are all Post-Exotics“! und negiert so die Exotisierung des Kunstbetriebs auf afrikanische Künstler. Die herkömmliche Vorstellung von Grenzen sind seiner Meinung nach zufolge als Erinnerung zu wahren. In dem Video „Camouflage“ wechselt Jun Yang zwischen Zeitungsartikeln und der Geschichte einer Person namens „X“, um über legales und illegales Fremdsein zu reden. Existiert das Bild, das wir von einer anderen Kultur haben nicht nur als Bild? Als das französische Einwanderungsbüro Ghazel die Aufenthaltsgenehmigung verweigerte, ergriff sie die Initiative. Sie entwarf ein Plakat, auf dem Folgendes zu lesen war: 'URGENT, Woman, 33, artist of Middle Eastern origin and WP (without permit) seeks a husband, from EU, preferably France'. Mittlerweile hat sie ihre Papiere und bietet sich selbst als Ehefrau an. Tanja Ostojic erreichte ähnliches über ihr Projekt „Looking for a Husband with an EU Passport". Daneben entlarvt sie aber auch die Tatsache des Frauenhandels, der Prostitution und alle anderen 'Nebeneffekte' des politischen Wandels eines mehr oder weniger zusammenwachsenden Europas. Annelise Coste zeichnet in ihrer Neonskulptur „FremdePolizei“ die paradoxe Situation von Europäern auf, die ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz leben. Diese Situation wirft einen Blick darauf, dass nicht nur Flüchtlinge von Ausgrenzung betroffen sind, sondern auch Europäer ohne festes Einkommen.

Fälschungen & Räumliche Verortungen Asylsuchende stellen im Auftrag von Minerva Cuevas Studentenausweise aus, die den Weg für viele Vergünstigungen eröffnen. Als eindeutig Benachteiligte unseres gesellschaftlichen Systems, da ihre Handlungsfreiheit stark eingegrenzt ist, produzieren sie ein Stück soziale Gerechtigkeit. Oliver Musovik stellt seine eigene gefakte Presseagentur vor. Gegen eine Geschichte über missverstandene Identitäten fertigt er gefälschte Presseausweise für seine Künstlerkollegen an. Halil Altindere übt Widerstand gegen die Repression seitens des türkischen Staatsapparat. Kleine Manipulationen offizieller Dokumente zielen darauf ab, die Systeme der Repräsentation und Identifikation zu stören. Andro Wekua fingiert eine potentielle Biografie und verwendet als Grundlage alte Zeitschriften und s/w-Fotografien, die er mit eigenen Zeichnungen und Textfragmenten verdichtet. Auf der Suche nach dem Paradox wird das Unmögliche entworfen, das Vergessene ausgemessen, die Unendlichkeit und Unübersicht-lichkeit geordnet. Art & Language beziehen sich auf die Weltkarten, die von Kidron und Segal in den 80er Jahren entwickelt wurden, um auf die Verteilung von Ressourcen und das darauf basierende Gefälle von Wohlstand und Reichtum aufmerksam zu machen. BalkanTV ist die fiktive und mobile Fernsehstation von Andreas Helbling und Zeljka Marusic. Auf Reisen ins Gebiet Kroatien, des Emmentals in der Schweiz und Kairo sammeln sie mit ihrer Videokamera Bilder, die sich zwischen medialen Ansichten und subjektiven Erlebnissen bewegen. Andreja Kuluncic delegiert das Festhalten von „Sehenswürdigkeiten“ der Stadt an Asylsuchende, die aus ihrer individuellen Situation heraus die Stadtbilder wie selbstverständlich in ein Wünschenswertes umwandeln und darüber hinaus sich selbst eine Sichtbarkeit verleihen.

Re:Location / Shake Das Projekt ID Troubles findet im Rahmen des Kooperationsprojekts RE:LOCATION / SHAKE statt. RE:LOCATION / SHAKE ist ein Gemeinschaftsprojekt von acht europäischen Kunstinstitutionen. Neben Halle für Kunst Lüneburg e.V. sind das migros museum für Gegenwartskunst in Zürich, das O.K Centrum für Gegenwartskunst in Linz, die Villa Arson in Nizza, das Museum für moderne Kunst in Bukarest, die Galerie Jana Koniarka in Trnava, das Casino Luxemburg und das Centrum Laznia in Gdansk daran beteiligt. Diese Institutionen gehören zu dem 1999 gegründeten Netzwerk europäischer Kunstzentren "Art Centers of Europe". Dieses Netzwerk hat sich zum Ziel gesetzt, ein kulturelles Wegeverzeichnis zu erstellen, das Kunstzentren außerhalb der wichtigsten europäischen Hauptstädte miteinander verbindet. Inzwischen sind diese Orte zu aktiven Zentren für die Produktion und Verbreitung internationaler zeitgenössischer Kunst geworden.

RE:LOCATION 1-7 / SHAKE entstand aus dem Verlangen heraus, den künstlerischen Austausch in einem sich radikal wandelnden Europa neu zu überdenken. Geopolitische, wirtschaftliche und technologische Veränderungen, wie etwa die schrittweise Erweiterung der EU, die Einführung des Euro und die zunehmende Verbreitung des Internets, haben ein günstiges Terrain für die Kooperation von Institutionen geschaffen, die in ganz unterschiedlichen Kontexten verortet sind; sie haben den Austausch von Informationen erleichtert und die Mobilität von KünstlerInnen, KuratorInnen und des Publikums, erhöht. Zum Gesamtprojekt erscheint ein zweibändiger Katalog. Der erste Band wird zur Eröffnung in Lüneburg vorliegen.

SHAKE Night Den Höhepunkt erfährt RE:LOCATION 1-7 / SHAKE am 9. Juli mit der SHAKE Night, die auf mehreren europäischen Fernsehkanälen live übertragen wird. Dieses Ereignis wird nicht nur den experimentellen und prozessualen Charakter von dem Gesamtprojekt verstärken, es stellt in der Tat den ersten Versuch dar, ein Publikum mit Hilfe modernster Medientechnologien europaweit vor einem Event für zeitgenössische Kunst zu versammeln. Pressetext

only in german

ID Troubles-Lüneburg
SHAKE Zürich/Belgrad/Lüneburg
Kuratoren: Zoran Eric, Kike Munder, Bettina Steinbrügge

im Rahmen von Re:location
Re:location - homepage

mit Halil Altindere, Fernando Alvim, Art & Language, Annelise Coste, Minerva Cuevas, Harun Farocki, Ghazel , Helbling / Marusic, Miodrag Krkobabic, Andreja Kuluncic, Oliver Musovik, Tanja Ostojic, Anny & Sibel Öztürk, Erzen Shkololli, Milica Tomic, Andreo Wekua, Stephen Willats, Jun Yang