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Sol LeWitt
Lost Voices
13.3. – 29.5.2005

Sol LeWitt hat den Innenraum der Synagoge in Stommeln für die Dauer seiner Ausstellung auf radikale Weise verändert. Sein markanter Eingriff in das Raumgefüge besteht aus einer solide gemauerten hohen Wand, welche die gesamte Breite des ehemaligen Sakralraumes durchmisst und so etwa zwei Drittel des Raumes komplett unzugänglich macht. Wir haben es hier also nicht mit einer in den Raum gestellten autonomen "Skulptur“ zu tun, sondern mit einer in mehrfachem Sinne einschneidenden Baumaßnahme. Gelangt man durch die Eingangstür ins Gebäude und durchquert den kleinen Korridor mit dem Aufgang zur hölzernen Empore, versperrt die 4.50 Meter hohe Mauer aus rötlichem Feldbrandstein zur Rechten komplett den Blick und verhindert auch jedes weitere Vordringen in den Raum. Die beim Betreten eines solchen Gebäudes sonst so wichtige Raumerfahrung, das „Sich Öffnen“ des Blickes nach Osten, und damit die Möglichkeit, den Ort zunächst visuell und dann auch körperlich zu durchmessen und zu begreifen, bleiben notgedrungen aus. Man steht schließlich etwas ratlos vor sorgfältig verfugtem rauem Mauerwerk, wie man es auch außen an dem alten Gebäude findet. Hier geht es offenbar nicht nur um eine optische und haptische Erfahrung, sondern auch um eine körperlich zu empfindende Enge, um das Gefühl eines Ein- oder Ausgesperrtseins. Den wohlwollenden Besuchern, die sich auf diese durchaus provokante Situation einlassen (pro-vocare = hervor-rufen), bleibt ein Raumabschnitt von nur etwa drei Metern Breite unmittelbar hinter dem Eingangsbereich des alten Gebäudes. Lenkt man den Blick nach oben, befindet sich direkt über einem die dunkle Empore, die – wie Sol LeWitt ausdrücklich erbeten hat – für die Dauer dieser Installation nicht betreten werden darf.

Schließlich bleibt oben nur ein schmaler heller Streifen zwischen Backsteinmauer und Emporenkante, der es ermöglicht, bis zur weißen Synagogendecke hochzublicken. Doch kommt es hier auch noch zu einer akustischen Erfahrung besonderer Art, denn man vernimmt von Anfang an Musik, welche den Raum erfüllt. Es klingt wie religiöser Chorgesang - getragene feierliche Töne - zwischendurch ist auch der Shofar, das in der jüdischen Liturgie gebräuchliche Widderhorn zu hören. Es wird schließlich klar, dass diese Klänge aus dem verschlossenen Bereich jenseits der Wand kommen müssen. Sie dringen durch den schmalen Streifen, der zwischen der oberen Mauerkante und der Synagogendecke bleibt, also über einen Umweg von oben nach unten, an unser Ohr. Hinter der Wand befindet sich der Thoraschrein und damit das eigentliche Zentrum des ehemaligen Gotteshauses. Dort haben sich einst die zeremoniellen Handlungen abgespielt, bevor die Synagoge durch eine seltsame Fügung zwar entweiht, das heißt zur Scheune und zum Stall degradiert, den Naziterror unbeschadet überstehen konnte – um schließlich, unter Denkmalschutz gestellt, seit 1990/91 zum Ort für internationale Kunstpräsentationen zu werden. Durch Sol LeWitts Eingriff in den Raum und die von ihm veranlasste Beschallung scheint es im ersten Moment, als solle dort hinter der geschlossenen Wand ein Teil des alten jüdischen Gemeindelebens anklingen, als könnten die Feiern des Rosh HaShanah und des Jom Kippur in einer der Kunst einbeschriebenen symbolischen Form noch einmal begangen, als solle hier noch einmal der wichtigsten Festtage im jüdischen Kalender erinnernd gedacht werden. Doch zugleich wird einem bewusst, dass diejenigen, die hier singen, gar nicht wirklich und physisch anwesend sind. Dass es sich um Klänge handelt, welche von Lautsprechern stammen, die sich hinter der gemauerten Barriere befinden und dass eine solche akustische „Reaktivierung“ immer eine im Nachhinein künstlich inszenierte und zugleich fragmentierte bleiben muss.

Diejenigen, die diesen Ort einst religiös belebten, sind nicht mehr da und das, was sie in Stommeln als Bestandteil einer hier einmal lebendigen jüdischen Kultur vertraten, kann nur noch aus der Distanz im Rahmen von Erinnerungsfragmenten in der Gegenwart auftauchen. Heute ist die Synagoge ein Ort der Kunst; hier finden keine Gottesdienste mehr statt und doch beeinflusst die Geschichte dieses Hauses, der Genius Loci auf einer subtilen Ebene wie von selbst die Künstler und ihre Entscheidungen. Hört man den von Sol LeWitt ausgewählten Klängen zu, wird klar, dass es keine historischen Mitschnitte aus längst vergangenen Zeiten sind, sondern vielmehr aktuelle Aufnahmen jüdischer liturgischer Gesänge. Auch an dieser Stelle wird noch einmal bewusst, dass es nicht um eine historische Objektivierung oder gar romantische Reaktivierung vergangener Ereignisse in und um Stommeln geht. Was Sol LeWitt hier in seiner Raum–Klang Installation macht, ist keine Rekonstruktion, sondern vielmehr eine exemplarische De-Konstruktion von Geschichte und damit auch eine kritische Befragung der Art und Weise, wie wir uns vergangener Ereignisse zu erinnern pflegen. Es geht um die räumlich und akustisch vermittelbare Erfahrung eines Verlustes, um den Verweis auf etwas schlichtweg nicht mehr Vorhandenes und um die damit verbundenen Konsequenzen für die Gegenwart. Es wäre auch ein komplettes Missverständnis, hier einen Rekurs auf eine vermeintlich heile jüdische Welt vor dem Nationalsozialismus in Stommeln oder anderswo sehen zu wollen. Es geht in erster Linie um die Vergegenwärtigung einer Leerstelle, um etwas, das sich der unmittelbaren Erfahrung entzieht und letztlich auch um das kritische Ausloten künstlerischer Möglichkeiten und ernstzunehmender ästhetischer Erfahrungen in der Gegenwart. Die Mittel, die Sol LeWitt dafür wählt, sind im weitesten Sinne konzeptuell und minimalistisch. Er arbeitet mit dem vorgegebenen Raum, mit einem sehr reduzierten aber umso effektiveren skulpturalen Element (Mauer) und mit aus dem „Off“ eingespielten Klängen. Die Konzeption und die Realisation dieses Werkes sind voneinander zu unterscheiden.

Am Anfang stand ein geschriebenes und gezeichnetes Konzept, das keinen Zweifel über die hier intendierte Arbeit zuließ. Dazwischen die Ausführung, welche die sprachlich ausformulierte und zu Papier gebrachte Idee räumlich-physisch konkretisierte. Und am Ende gibt es die Betrachter, die das Werk erfassen, mit ihren Sinnen aufnehmen, verstehen und natürlich auch subjektiv interpretieren. Somit spielen die Empfindungen, Gedanken und letztlich die physische Anwesenheit der sich auf die Arbeit einlassenden Menschen eine wichtige Rolle. Wir, die Betrachter werden zu Beteiligten, zu Teilhabern einer in ihrem Ende offenen ästhetischen Erfahrung. Unerkennbar bedient sich Sol LeWitt in seiner Arbeit eines reduzierten, geometrischen Formenvokabulars, das er und andere amerikanische Künstlerkollegen schon in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts für ihre „Primary Structures“ auf unterschiedliche Weise einsetzen konnten. Die Haltung, die er einnimmt, macht ihn aber von Anfang an unverwechselbar. Wenn man Sol LeWitt wegen dieser grundlegenden Formensprache mit seinen Kollegen Donald Judd, Robert Morris und Carl Andre vergleichen will, dann muss man feststellen, dass es ihm niemals allein um eine unmittelbare und zur Erkenntnis befähigende Anschauung geht, (etwa im Sinne Frank Stellas: „what you see is what you see“) sondern immer (auch) um ein Konzept, das sich bisweilen einer direkten Anschauung entzieht. Für LeWitt hat ein Werk nicht allein die Aufgabe, sinnliche Erlebnisse hervorzurufen, sondern es steht immer zeichenhaft für ein Konzept, das nicht auf Anhieb evident sein muss. Im Falle seiner nunmehr vierzig Jahre zurückliegenden „Serial Projects ABCD“ wird dies an einigen Arbeiten nachhaltig erfahrbar. Man stelle sich eine Präsentation von würfelförmigen Objekten vor, die eben nicht alles zeigt, was vorhanden ist, sondern bei dem Betrachter die Chance gibt, durch Begreifen des Konzeptes, durch ein genaues Abwägen von Sehen und Denken herauszufinden, dass sich unter bestimmten Formen wiederum andere kleinere Formen „verbergen“ (müssen), deren Existenz schließlich zum Verständnis des Werkes unabdingbar ist.

m Falle der Synagoge zu Stommeln gibt es gleich mehrere konzeptuelle Entscheidungen, etwas nicht zu zeigen oder unbegehbar zu machen. Das betrifft zwei Drittel des Raumes, die beiden Lautsprecher und die Empore. Grundlage dafür ist aber nicht allein eine fundierte ästhetische Überzeugung, sondern Sol LeWitts Bewusstsein einer Uneinholbarkeit von Vergangenheit durch eingeübte Formen von Repräsentanz, sein konzeptuelles Einräumen einer prinzipiellen Nicht-Darstellbarkeit, aber auch eine schmerzhaft empfundene Fehlstelle, für die er ein ästhetisches Äquivalent gesucht und gefunden hat. Wie könnte es anders sein: Es geht auch im Falle von „Lost Voices“ in der Synagoge von Stommeln um Erfahrungsbereiche ohne Evidenz, um etwas, das sich einer unmittelbaren sinnlichen Anschauung verweigert oder entzieht und für das es dennoch – oder gerade deshalb - lohnt, sich zu sensibilisieren. Sol LeWitt räumt diesem „Anderen“, außerhalb der Wahrnehmung Liegenden, an sich nicht Darstellbaren einen Ort ein. Eine solche offen demonstrierte Haltung kommt dem jüdischen Bilderverbot durchaus entgegen – nicht allein aus religiösen, sondern vor allem auch aus ästhetisch-konzeptuellen Gründen – geht sie doch, wie Theodor W. Adorno es für die Moderne formuliert hat, von der „Unmöglichkeit des Bildes“ aus und hält den Bereichen, die sich der unmittelbaren Anschauung, aber auch dem verstandesmäßigen Erfassen entziehen, einen gedanklichen Raum offen. Auch Sol LeWitt geht davon aus, dass sich Wirklichkeit durch ihre Bebilderung und Beschreibung nicht einholen, geschweige denn für immer in einer griffigen Formel bannen lässt. Man könnte diese Erkenntnis und die damit verbundene Skepsis Bildern gegenüber auch mit Jochen Gerz ausdrücken: Dass nämlich die wahren Bilder diejenigen seien, die keine Bilder sind. (Weil sie allein in unserem Innern, in unseren Erinnerungen, Vorstellungen, Sehnsüchten und Ängsten ihren eigentlichen angestammten und nachhaltigen Ort haben).

Der höchst problematische, meist zum Scheitern verurteilte Versuch, etwas Vergangenes zu bebildern, es im Sinne einer Beschreibung zu vergegenwärtigen, hat allerdings auch viel mit unserem überkommenen Geschichtsverständnis zu tun. Machen wir uns nichts vor: Vergangenheit liegt nicht in einer Vorratskammer unseres kollektiven Gedächtnisses bereit, um 1:1 im Sinne einer alle befriedigenden Lösung abgerufen zu werden, sie muss notgedrungen immer aus dem „Jetzt“, aus der Gegenwart heraus begriffen werden. Erinnern ist niemals gleichzusetzen mit dem Objektivieren vergangener Ereignisse, sondern beinhaltet immer ein Aktivieren gegenwärtiger Bewusstseinslagen und Fragestellungen, von denen es auch getragen und beeinflusst wird. Weil Erinnerung aktuelle Vergegenwärtigung bedeutet, muss sie notwendigerweise als unabgeschlossener und unabschließbarer Prozess begriffen werden, als eine Verpflichtung gegenüber der Gegenwart in Hinblick auf eine nicht leicht auslotbare Vergangenheit. Dies ist besonders dann der Fall, wenn es um etwas nicht mehr Vorhandenes, letztlich Unwiederbringliches geht. Sol LeWitts radikale Vorgehensweise hat so gesehen wenig mit Erinnerung im Rahmen von Repräsentation von Vergangenem zu tun, sondern in erster Linie mit dem Erfahrbarmachen eines geschichtlich bedingten Entzugs, einer Fehlstelle. In der Tat geht es ihm um den unwiederbringlichen Verlust des jüdischen Anteils an der deutschen Kultur, doch seine Mittel sind nach wie vor die eines konzeptuell vorgehenden, repräsentationskritischen, den Ort, den Raum und letztlich den Betrachter auf besondere Weise zusammen bringenden Künstlers. Er sorgt durch das bewusste Versperren und Entziehen dafür, dass die ostentative Verweigerung oder „Nicht-Erfahrung“ des ehemaligen Sakralraumes, so paradox es klingen mag, die Chance erhält, zu einer besonderen Form ästhetischer Erfahrung zu werden. Denn ein Betrachter, der die anfänglich irritierende Beengtheit und letztlich Vergeblichkeit seiner intendierten Raumerfahrung zusammen mit seinen eigenen Empfindungen wahrzunehmen beginnt, reflektiert sich und alle seine Reaktionen im Akt der Wahrnehmung mit.

Man registriert die Phänomene schließlich keineswegs von einer neutralen Position aus, sondern bedenkt sich zugleich als Sehenden, Hörenden und Empfindenden mit, auch und gerade im Falle des Entzugs einer bestimmten Erfahrung. Zum Beispiel dann, wenn man wegen der Mauer nicht weiterkommt und auf sich selbst und seine anfängliche Ratlosigkeit und Unsicherheit zurückgeworfen wird. Man bemerkt auf diese Weise natürlich auch seine eigenen Reaktionen und Veränderungen in Bezug auf das soeben Gesehene und Gehörte. Schließlich begreift man die Abhängigkeit der soeben gemachten Wahrnehmungen von seiner körperlichen Anwesenheit im schmalen Raum unter der Empore und unmittelbar vor der Trennwand. Im Idealfall sieht und reflektiert der Betrachter schließlich die Bedingungen der Möglichkeiten und Grenzen seiner Erfahrungen auf kritische Weise. So etwas aber ist eine ästhetische Erfahrung, welche sich in ihren Grundlagen sowohl von einem interesselosen Wohlgefallen, als auch von einem blinden Einverständnis in eine gleichsam didaktisch vorgehende Kunst auf befreiende Weise unterscheidet. Es geht darum, jenseits der eigenen Befangenheiten und Grenzen noch Möglichkeiten einer Veränderung seiner selbst (und damit letztlich auch der Verhältnisse, in denen man lebt) aufzuspüren. Und dies gelingt trotz oder gerade wegen des Gewahrwerdens eines hier konstatierten Verlustes, wie er im Titel der Arbeit bereits anklingt

Peter Friese