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In seinen Wort-Bild-Zyklen, Filmen und fotografischen Arbeiten überblendet Sven Johne vermeintlich dokumen-tarische Erzählpraxis mit stimmiger Auswahl des Bildmaterials und legt dabei sein Augenmerk präzise auf die Essenz gesellschaftlicher Phänomene. Kleine Meldungen oder Randnotizen der Lokalpresse können dabei Auslöser für seine oft zyklisch angelegten Werkgruppen sein. Sven Johnes thematischer Bogen spannt sich hierbei von Technikversagen und Piraterie in der modernen Seefahrt über Beobachtungen des persönlichen Scheiterns unter dem Effizienzdruck der globalisierten Gesellschaften bis hin zur Beschäftigung mit der Konstruiertheit von Geschichte. Hintergrundrecherche und Auswertung von Bildern und Medienberichten vermischen sich dabei mit eigener Dokumentation und fiktiver Neuedition des zusammengetragenen Materials. Sven Johne schafft in seinen Arbeiten eine Atmosphäre, welche die Frage nach Wahrheit, Authentizität oder Beweiskraft in den Hintergrund treten lässt und zur tatsächlichen Beschäftigung mit dem gegenwärtigen ge-sellschaftlichen Status Quo herausfordert. Wie deutbare Abbildungen der Realität geben sie durch ihre fiktionale Zuspitzung den Anstoß, den Dingen auf den Grund zu gehen und den sprichwörtlichen „Stein ins Rollen“ zu bringen.

„1984 war ich das erste Mal im Zirkus, ein Gastspiel des berühmten Zirkus Probst, eine großartige Show. Ich hatte so etwas noch nie gesehen, hier schien die Schwerkraft überwunden und wilde Tiere waren folgsam und sanft. 2011 tourt dieser Zirkus wieder, von Anfang März bis Mitte November. Es ist seine 66. Tournee. Sie führt ihn diesmal durch ganz Ostdeutschland, in über 50 Städte und Dörfer, etwa 4.000 Kilometer. Ich werde diesem Zirkus folgen, werde in jede Stadt und in jedes Dorf reisen – aber erst kurz nachdem das Chapiteau wieder abgebaut ist. Ich bin erst da, wenn der Platz schon wieder leer ist.“ (Sven Johne, Februar 2011)

Das traditionelle Bild des ‚Wanderzirkus’, gekoppelt an elterliche Erzählung und Kindheitserinnerungen – an eine Zeit vor dem ‚richtigen Leben’ – mag anachronistisch erscheinen, trägt aber auch heute noch die Verheißung potentiellen Glücks in sich. Sven Johne nimmt in seiner Ausstellung Greatest Show on Earth diesen Bezug konkret auf und entwickelt ihn im Sinne einer Daseinsmetapher weiter. Das ‚Höher, Schneller, Weiter’ des ‚Systems Zirkus’ sind Schlagworte einer gesellschaftlichen Verfasstheit, deren Lust an Sensationen, Luxus und spekulativem Gewinn zunehmend von Überdruss, Enttäuschung und einem Gefühl der (inneren) Leere begleitet wird. Sven Johne spürt diesem Phänomen in einem präzise abgestimmten Ensemble neuer Arbeiten nach, die wie bildhafte, aufs Wesentliche reduzierte Allegorien zueinander in Bezug gesetzt werden. So verschränken sich die fotografierte Lakonie leerer Zirkusspielstätten (Following the Circus, 2011) mit dem ewigen Versprechen puren Goldes (El Dorado, 2011) oder der visuellen Pracht von Edelrosen (Roses from Africa, 2011), die mit höchstem Logistikaufwand aus fernen Winkeln der Erde herangeschafft werden und nur im kurzen Moment ihrer Blüte handelbar sind. Dazu kündigt ein Anheizer in Dauerschleife (Greatest Show on Earth, 2011) eine sensationelle Attraktion nach der anderen an, die bei genauerem Hinhören jedoch eher Zweifel und Unbehagen wecken. Eine besondere Qualität der Arbeiten ist ihre Direktheit – ohne zusätzlichen Text und mit einer prägnanten Visualität entwickelt, funktionieren sie jede für sich als Auslöser für eine unmittelbare Auseinandersetzung mit ihren Sujets. Zusammen stellen sie in Greatest Show on Earth die Frage nach der Qualität kollektiver Vorstellungen. Steckt in deren utopischem Potential zugleich auch der Kern von Selbstzerstörung und Agonie?