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»Solange ich zurückdenken kann, haben die Alltagsgegenstände Schwarzer eine tiefempfundene Bedeutung für mich. Wenn ich die Kleider im Schrank meiner Mutter betrachte, die Florsheim-Schuhe meines Vaters, die Skiausrüstung meines besten Freundes, die Messer meiner Schwester — alle diese Gegenstände prägen mein tiefes Verständnis der Bedeutung alltäglicher Dinge. Dinge, die etwas Besonderes sind, oder Dinge, die zu etwas Besonderem werden, weil wir sie schärfen, putzen, sie in eine Plastikfolie hüllen, uns um sie kümmern — obgleich sie gewöhnlich sind. In dieser Ausstellung und zu diesem Zeitpunkt meiner künstlerischen Laufbahn ist es mir wichtig, die Momente auszukundschaften, die den ›schwarzen‹ Dingen erlauben, ihren rechtmäßigen Platz in der Welt einzunehmen. Es ehrt mich, dass Menschen mir ihr Vertrauen schenken — nicht nur in Form ihrer Objekte, sondern auch über Jahrzehnte des Sammelns hinweg, ihr intensives Nachdenken und ihre Zeit. In dieser Haltung der Dankbarkeit und Ehrerbietung möchte ich eine kritischere Erforschung dessen beginnen, wie die Welt ›Schwarzsein‹ sieht — und darüber hinaus, wie die Welt mich selbst sieht.« Theaster Gates

Der Kopf der dunkelhäutigen Babypuppe ist nur wenige Zentimeter hoch. Die Augen liegen tief, ihr Blick wirkt traurig. Der schwarze Kopf ist mit gelben Bändern verziert, die gefältelt an den Schläfen mit kleinen Nägeln befestigt sind, den Scheitel schmückt eine mit einer glänzenden Perle festgesteckte Schleife. Die Perlen setzen sich als Knopfleiste des Spitzenkleids über dem rundlichen Körper fort, Arme, Oberkörper und Beine bleiben unter dem gepolsterten Stoff des Nadelkissens verborgen. Das Muster der kunstvoll geklöppelten Spitze hebt sich dekorativ vom Rot des Unterkleides ab. Die kleine, halslose Figur erscheint im Kunsthaus Bregenz als eine ins Überdimensionale vergrößerte Arbeit Theaster Gates’. Der Kopf, nachgeschnitzt und schwarz getüncht, liegt auf die Wange gedreht im dritten Obergeschoss des Zumthor-Baus. Das Muster der Stickerei ist auf einen Teppich übertragen, der Boden, Sockel und Rahmen bildet. Es geht um die Frage, was »Schwarzsein« bedeutet und welche Formen und Konnotationen die weiße Welt ihm zuordnet und zugeordnet hat. Das Tar baby dient gleichermaßen als Poster-, Kartenund Covermotiv für den Katalog zu Gates’ Ausstellung im KUB.

Theaster Gates bezieht sich in seiner künstlerischen Praxis, seinen Skulpturen und Installationen auf städtische Strukturen und historische politische Ereignisse. Ursprünglich arbeitete Gates als Städteplaner, sein Vater war Bauarbeiter. Bauen und Veränderung, urbane Erneuerung und die Umkehr von Herrschaftsverhältnissen sind sein Thema. Bekannt wurde der Künstler mit den Dorchester Projects: Ende 2006 erwarb er eine Reihe leer stehender Gebäude in der South Side von Chicago. Mit einem jungen Team von Architekt/ innen und Designer/innen wurden diese renoviert und reaktiviert. Seitdem beherbergt eines dieser Gebäude eine Bibliothek und eine Plattensammlung und bietet Raum für Performances, Konzerte und Dinner-Veranstaltungen. Über diesen Impuls hinaus entwickelten sich in der Nachbarschaft weitere kulturelle Einrichtungen. Gates bezeichnet diesen Ansatz als ein konzeptuell offenes Ökosystem, da sein Projekt sich über die Verkäufe von Skulpturen aus Materialien finanziert, die in den verlassenen Häusern gefunden und somit wiederverwertet werden.

In the Event of a Race Riot (seit 2011) nennt sich eine Serie von Theaster Gates, die sich auf die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung bezieht. In Birmingham, Alabama, wurden Anfang Mai 1963 friedliche Demonstrant/innen aus der schwarzen Bevölkerung von der Polizei mit Wasserwerfern angegriffen. Es gab viele Verletzte, einige Demonstrant/innen wurden über Autos oder in Gräben geschleudert. Auch ein Zeitungsfoto, das Andy Warhol für seine Serigrafie Birmingham Race Riot, 1964, verwendet, in dem ein schwarzer Junge von Hunden attackiert wird, entstand an diesem Tag. Gates präsentiert die Feuerwehrschläuche säuberlich gefaltet und gereiht in vergoldeten Rahmen und transformiert so das belastete Material in skulpturale, wie abstrakte Gemälde wirkende Werke.

In Bregenz zeigt Theaster Gates erstmals seine Sammlung von »Negrobilia«. Seit einigen Jahren erwirbt er historische Figuren, die Afroamerikaner in stereotyper Weise darstellen: als ergebene Diener, freundliche Mummies, tanzende Sklaven, mit dicken Lippen, krausem Haar und üppigen Pos. »Für mich dient die Sammlung als Mahner einer Geschichte und als Katalysator für ihre anhaltende Beschäftigung mit ihr.« Auch die kleine Babypuppe gehört zu dieser Sammlung, die Edward J. Williams vor dreißig Jahren anzulegen begann, um die Objekte der Öffentlichkeit und weiterem Kursieren zu entziehen.

The Dancing minstrel im Erdgeschoss ist eine rassistisch gestaltete Figur aus den burlesken Revuen des 19. Jahrhunderts. Gates hat die von ihm geschaffene Kopie auf mehr als vier Meter vergrößert. Sie baumelt von der Decke. Um die interaktive Skulptur in Bewegung zu versetzen und sie tanzen zu sehen, müssen die Besucher/innen selbst tanzen und auf diese Weise die Feder, an der die Figur herabhängt, aus dem Gleichgewicht bringen — wobei sich die Betrachtenden und Tanzenden mit der peinlichen Veralberung und Zurschaustellung eines Götzenbildes konfrontiert sehen.

Im ersten Obergeschoss ist eine Statue des hl. Laurentius ausgestellt. Die Figur stammt aus einer verlassenen Kirche, die sich neben dem Atelier von Gates in Chicago befindet. Zudem zeigt Gates eine Reihe von Teerarbeiten, die zum Teil Schindeln oder rohe Dachdeckermaterialien einbeziehen. Zäh fließt das sämige Material über seinen Träger. Die schwarze Malerei versteht Gates als »Malerei über Schwarze« (»Paintings about black people«). Als matte Ikone und dunkle Anklage heben sich die Bilder von den grauen Wänden des Kunsthauses ab, erinnern an mangelhaft gezimmerte Wohnstätten, moderndes Holz, Armut, Verfall, beschädigtes Leben.

Im zweiten Obergeschoss ist ein Video von Shirley Temple aus dem Jahr 1935 zu sehen, das Gates bearbeitet hat. Der blond gelockte Kinderstar erhielt im Alter von sechs Jahren den Juvenile Award, einen Oscar für Kinderdarsteller. In einer berühmten Szene des Films The Littlest Rebel tanzt Uncle Billy, der schwarze Schauspieler Bill »Bojangles« Robinson, auf einer Treppe, das weiße Mädchen folgt seinen virtuosen Schritten. In einer anderen Szene steppen beide auf der Straße, um Geld zu verdienen. Einmal mehr gelingt es Theaster Gates, das Jahrhunderte währende amerikanische Thema in die Aktualität des heutigen Europa zu überführen.

Biografie

Theaster Gates wurde 1973 in Chicago geboren, wo er lebt und arbeitet. Er hat weithin ausgestellt, unter anderem in Gruppenausstellungen wie Saltwater, 14. Istanbul Biennale (2015), der Whitney Biennial in New York (2010), der dOCUMENTA 13 in Kassel (2012), The Spirit of Utopia in der Whitechapel Gallery, London (2013), und When Stars Collide im Studio Museum in New York (2014). 2015 war er Teilnehmer der Biennale in Venedig. Zu seinen wichtigsten Einzelausstellungen zählen unter anderem To Speculate Darkly: Theaster Gates and Dave, the Slave Potter im Milwaukee Art Museum (2010), Theaster Gates: The Listening Room im Seattle Art Museum (2011/2012) und Theaster Gates: 13th Ballad im MCA Chicago (2013) sowie The Black Monastic, ein Künstleraufenthalt im Museu de Serralves, Porto (2014).
2013 war Gates der erste Künstler, der mit dem Vera List Center Prize for Art and Politics ausgezeichnet wurde, 2015 erhielt er den Preis Artes Mundi 6. Gates gründete zudem die gemeinnützige Rebuild Foundation. Seit 2011 ist er Director of Arts and Public Life an der Universität von Chicago und Ehrendoktor am San Francisco Art Institute.