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04.10.2020 - 03.01.2021

Thorsten Brinkmann. Trasher Island

Fundstücke, Sperrmüll, wertlos Gewordenes sind Thorsten Brinkmanns Arbeitsmaterial. Mit diesen Ablagerungen der modernen Kultur bewegt er sich humorvoll und spielerisch leicht zwischen den Genres Fotografie, Skulptur, Performance und Installation. Die fotografische Selbstinszenierung, in denen er als Schauspieler, Requisiteur, Regisseur und Fotograf fungiert und die er in seinem Studio mit einem Selbstauslöser erschafft, ist einer seiner Schwerpunkte. Eingehüllt in gebrauchte Kleidungsstücke und Alltagsobjekte, verwandelt er sich in anonyme, manchmal groteske oder aber auch androgyne Figuren, die auf spielerische Weise auf die Kompositionen alter Meister verweisen oder konterkarieren.

Reiter*innen sitzen „hoch zu Ross“ auf Schreibtischen, eine geschlechtsneutrale Venus mit Mülleimer auf dem Kopf präsentiert sich lasziv dem Betrachter, aus gefundenen Brettern entstehen romantisierte surreal anmutende Seestücke, und eine alte Bürste setzt sich gekonnt auf eine Vase, um sich als Kaktus zu inszenieren.

One´s man Trash is another man´s Treasure.

Trasher Island, eine Anspielung auf die materiale Ansammlung der Fundstücke im Atelier? Oder eben phonetisch doch ganz beim schottischen Klassiker Treasure Island? Die Schatzinsel. Thorsten Brinkmann gräbt wie die Protagonisten der Novelle von Robert Louis nach einem Schatz. Nach dem Schatz der Neubedeutungen und Neubewertungen des vermeintlich Wertlosen. So treffen die Betrachter*innen in den Arbeiten auf alltägliche Gegenstände, welche ihnen nicht mehr dienen müssen und stattdessen eine eigene künstlerische Welt voller Schabernack präsentieren. Die Dinge scheinen bei Thorsten Brinkmann kein Ende zu finden. In kurioser Form finden sie immer wieder auf die Bühne des Lebens zurück. Sei es am Künstler selbst, als Landschaft, im klassischen Stillleben oder gar an seinem eigenen Hund


Eröffnungsrede von Arne Rautenberg zur Ausstellung „Trasher Island“ von Thorsten Brinkmann am 04.10.2020 in der Herbert-Gerisch-Stiftung Neumünster

Selbstportrait als Ritter im utopischen Voodoo

Wird von den Arbeiten des 1971 geborenen Thorsten Brinkmann gesprochen, fällt schnell ein Wort: Fundus. Es kommt aus dem Lateinischen, bedeutet Grund und meint zweierlei: zum einen die Gesamtheit von Gegenständen, auf die man für die Realisierung von Ausstellungen oder Aufführungen zurückgreifen kann – zum anderen einen geistigen Bestand, der da ist, wenn man ihn braucht, was in der Redensart „ein unschätzbarer Fundus an Erfahrungen“ zum Ausdruck kommt.

Natürlich ist da zuallererst die Materialschlacht. Ein im wahrsten Sinne „überbordendes“ Lager in dem gesammelt ist, was Menschen auf den Sperrmüll stellen, auf Flohmärkten verramschen, vergessen, in jedem Fall los sein wollen. Dieses Lager ist ein Steinbruch für die Konsumgeschichte des 20. Jahrhunderts und alle sie begleitenden ästhetischen und persönlichen Umstände. Es ist nicht nur ein Steinbruch, es ist Ausdruck sozialer Abgründe, und Aufstiege, von Niederlagen und Utopien, vom Verblassen der Idee des ewig Neuen, vom Kaufrausch und einem stets davonmäandernden Zeitgeist. Kurz: Dieses Lager mit seiner bundesdeutschen Schlagseite zeigt, woher wir kommen und wie wir wurden, was wir sind.

Und es wird niemanden geben, der oder die nicht von der Maserung einer Mahagonischrankwand, einer pastellfarbenen Industriekeramik aus den frühen 60er Jahren, einem schmiedeeisernen Zaunelement oder gläsern-wuchtigen Parfumflakon innerlich ergriffen ist. Weil wir stets etwas mit den Gegenständen assoziieren, weil ihr Anblick uns in die Zeitmaschine setzt, uns wieder jünger macht und in den Kontext vergangener, vielleicht sogar warmer Zeiten mit liebens-, vielleicht auch nicht so liebenswerten Menschen und Systemen beamt.

Wenn ich einen von Thorsten Brinkmann zu einem Wandensemble mitverarbeiteten Teppich sehe, muss ich an meine Großmutter denken, die 1947 in der Kieler Fischfabrik „Holdorf & Richter“ in Nachtschichten schuftete, weil sie zu Hause einen kriegsinvaliden Mann und drei kleine Kinder zu versorgen hatte und zwei Jahre Extraschichten schob, damit ein Teppich auf dem eiskalten Terrazzoboden ein Minimum an Behaglichkeit verströmen konnte.

Doch die Heiligtümer von damals sind heute wertloses Zeug, Plunder. Thorsten Brinkmann nimmt in seiner Arbeit Kontakt zu diesen bedeutungsschwer kontaminierten Materialien auf.

Und das ist gar nicht so schwierig, denn in allem Gebrauchsgut steckt eine Referenzgröße: das menschliche Maß. Besagte Gegenstände sind zum draufstehen, anfassen, umfassen, umschließen, befüllen, beliegen, belümmeln, besitzen gedacht, sie sind für Hände, Beine, den Körper, die Augen gemacht.

Entsprechend untersucht Brinkmann in seinen Fotoserien, etwa in „Das Prinzip Sockel“, wie zwei Gegenstände mit- und aufeinander klarkommen. Dafür muss jedes einzelne Objekt gefunden, begutachtet, auf seine vielleicht auch statischen Qualitäten überprüft und strategisch mit einem Objektpartner zusammengebracht werden.

Vielleicht ist die genaue Kenntnis des Fundus überhaupt der Angelpunkt im Brinkmannschen Schaffen, weil er ihn in Jahren durchdrungen und erweitert hat, ihn zu lesen und über eine ästhetisch motivierte „kombinatorische Paranoia“ zu inszenieren versteht.

Etliche Möglichkeiten tun sich auf: Da ist die erwähnte serielle Untersuchung mittels Studio-Fotografie. Auf Filmebene gehen diese Forschungen weiter; in seinem Anfang der Nullerjahre gedrehten Video „Gut Ding will es so“ hantiert Brinkmann auf der Slapstickebene mit Elementen aus seinem Fundus – wobei die Tücke der Objekte als Mittel zur Erzeugung von Humor eingesetzt wird. Hier sieht man noch sein Gesicht – spätestens ab der mit Selbstauslöser fotoinszenierten Serie „Portraits of a Serialsammler“ erscheint Brinkmanns Gesicht verdeckt. Über die Anonymisierung stellt sich die Selbstinszenierung ganz in den Dienst der Komposition, ein weiterer Powerbegriff für Brinkmanns Werk – der darin eingeschriebene Drang, dass alles über sich hinauszuweisen habe, gilt auch für seine eigene Person und Persona auf den Bildern – das Allgemeine erhebt sich über das Besondere.

Ferner schafft Brinkmann Materialcollagen, bettet seine Fotoinszenierungen in Wandinstallationen ein, switcht scheinbar mühelos zwischen 2D und 3D hin und her – eine kleine Leiste, die aus dem Bild hinausweist, kann genügen, um (wie eine Supermacht!) eine Dimension zu sprengen. Ganze Rauminstallationen mit drehendem Plattenspielern und Space-age-Lichtästhetiken, Mustertapeten sind Teil des Werks von Brinkmann - - und nicht nur komplette Rauminstallationen, wie etwa der in Hamburg stationierte „Salon Livreske“, sondern ganze Hausinstallationen zählen zu seinem Oevre, wie die beeindruckende Permanent-Installationen „La Hütte Royal“, welche 2013/14 im amerikanischen Pittburgh realisiert wurde. Eine Wunderkammer des Wohlstandmülls. Dazu kommen großformatige Assemblagen, die mit dem Verhältnis von Bild, Rahmen und Rahmenumraum spielen. Ebenso kinetische Objekte, in denen Wasser plätschert, bzw. erstmalig für die Ausstellung hier in der Herbert Gerisch-Stiftung ein echtes Novum im Werk von Thorsten Brinkmann: Eine Bronze!

Das Reiterstandbild à la Brinkmann ist eine Arbeit mit besonders symbolischem Charakter, es ist eine Art Alter ego, das Signet des Künstlers, wie es auch als Button auf seiner Homepage Verwendung findet. Die Mini-Maße von 50 x 42 x 20 cm, persiflieren die Idee des hehren Reiterstandbildes, was noch einmal besonders durch den untergemauerten Backsteinsockel betont wird.

Das „Sabotieren von Ikonen“ von dem Thorsten Brinkmann in einem Interview spricht, manifestiert sich hier deutlich – und, das finde ich liebenswürdig-delikat, die freundliche Sabotage macht auch vor Brinkmanns eigenem Alter ego, dem Rittersein im Rahmen der Gegenwartskunstwelt nicht Halt. Ist dieses Alter ego gar ein Don Quichotte, der gegen die Windmühlen der Hierarchisierungen anrennt?

Die Bronzearbeit hat auch einen Titel. Nicht Alex de Large, Name der Hauptfigur aus Clockwork Orange, dessen wüste Gewalt zunehmend brutal auf ihn selbst zurückfällt – sondern „Alex dü Horse“. Inhaltliche Anknüpfungspunkte über die im Hintergrund sich manifestierende Gewalt, die vom Wesen aller Reiterstandbilder ausgeht, sind Legion.

Das Spielen mit Referenzgrößen im Zerstückeln und Zusammensetzen setzt sich bis auf die Wortebene via Betitelung der Arbeiten fort. „Misstallika“ etwa spielt mit den Assoziationsverstrickungen zwischen dem Miss-Kosmos, dem Element Metall und der Thrash-Metalband Metallica, „Oskar van Degenball“ ruft in all seiner ritterlichen Inszenierung Oswald von Wolkenstein mit auf und ein Video-Titel wie „Se king“ gerät zu einer Mischung aus „seeking“ und „The King“ = verhackstückelte Verballhornungen von Bekanntem assoziieren die Selbstdarstellung des Künstlers als einen ewig Suchenden und zugleich, zumindest, was diese Arbeit betrifft, als einen ganz oben stehenden Gefundenhaber. Die Einverleibung von oben und unten, auch das eine Strategie im Schaffen von Thorsten Brinkmann.

Blickt man in die Kunstgeschichte, wird man wenig Mühe haben Patronate für diesen Ansatz zu finden. Von Kurt Schwitters, der vor 100 Jahren als erster die Umwertung von Müll zu Kunst im großen Stil und ebenfalls auf zwei- bzw. dreidimensionaler Ebene bis hinein in den Wohnraum – Stichwort „Merzbau“ – durchzog, quer durch so ziemlich alle Kunstrichtungen, etwa den Surrealismus, die Fluxuskunst der 60er Jahre, bis hin zu Jonathan Meese, der heute weltweit mit seinem ausufernden, Werte durcheinanderwirbelnden, spartenübergreifenden Werk unterwegs ist.

Auch auf volktümlicher Ebene gibt es etwas Vergleichbares, denken Sie nur an den Wolpertinger, das bayrische Fabelwesen, an dem sich die Tierpräparatoren des 19. Jahrhunderts ausgetobt haben: Hase mit Entenschnabel, Flügeln, Eichhörnchenpuschel und Geweih.

Ich erlaube mir den volkstümlichen Vergleich, denn da ist etwas im Werk von Thorsten Brinkmann, dass ich als zugewandt bezeichnen möchte. Hier spielt sich keine Künstlerpersönlichkeit in den Vordergrund, im Gegenteil, Thorsten Brinkmann meidet es, sein Gesicht bei seinen Inszenierungen preiszugeben. Star dieser Präsentationen ist das vermeidlich wertlose Abfallmaterial unserer Überflussgesellschaft, das Thorsten Brinkmann nutzt, um es als artifizielle Kostbarkeit zu inszenieren.

Und zwar so, dass die Inszenierung als eine von Wohlmaß und ausgeglichenen Hell-Dunkel-Kontrasten, von raffiniert gesetzten Schnitten und Ansätzen, sowie oftmals geschmackvollen Farbnuancen getragen wird. Man könnte sagen, dass Brinkmanns äußerst dekorative Ensembles zärtlich-ästhetische Wertschätzungen sind. Absolut lowbrow. Echte Hingucker und „Studioblüten“, wie Thorsten Brinkmann sie in einer seiner Serien nennt.

Damit kriegen sie uns, locken uns in die Falle. Denn anzitiert wird hier die Hochkunst, sowohl die der inzwischen millionenschweren Abstraktion und Moderne – wie auch die der Hochrennaissance, man denke nur an Brinkmanns Bildgrößen und Personenaufbau, und gerät entsprechend rasch in die Blütephase der Portraitmalerei als Referenz. Diese wird aber – auch das ein Ausdruck des Kampfes von Ritter Brinkmann – vom hohen Ross heruntergeholt. Man könnte es einfach sagen: Brinkmanns Arbeiten sind ihrem Wesen nach unhierarchisch und haben einen in der unerwarteten Zweckentfremdung wurzelnden Humorkern.

Die Programmatik hinter dem Schaffen lässt sich auf folgende Formel bringen: 1) Bringe Dinge zusammen, die nicht zusammengehören und 2) Mache das Kleine groß.

Aus dem ästhetisch bedachten, inhaltlich entleerten Zusammenführen von Relikten unserer Konsumgeschichte spricht für mich eine Sehnsucht nach anderen, ursprünglicheren Kulturen, die in ihrer Lebensnähe und Natürlichkeit ihrem Sein vielleicht noch mittels Anbindung ans Transzendentale mehr Tiefe und kosmischen Einklang zu geben verstanden als unsere heutige Gesellschaft.

Das führt mich zu einem weiteren, werkimmanenten Perspektivwechsel: Denn es lässt sich in Thorsten Brinkmanns Werk nicht nur konsumgeschichtlich zurückschauen, es lässt sich auch visionär nach vorn schauen: Was, wenn die Brinkmannschen Artefakte Ausdruck einer neuen, heute noch unbekannten, auf unseren Trümmern fußenden Kultur sind? Ein warmer Schauder durchfährt einen bei diesem utopischen Voodoo.

Die aufgerufene Ritterästhetik in Darstellung und Titeln weist ebenfalls auf eine durchaus auch kindliche Sehnsucht nach dem Einfachen hin, eine Sehnsucht nach vormodernen, ja mittelalterlichen Zeiten, nach Heldenvisionen, der Suche nach dem Heiligen Gral (also dem Sinn allen Strebens!). Es ist eine Sehnsucht auf ein Dasein, welches mit einem Kinderherzen als Reise voller Abenteuer begriffen werden kann, als eine menschliche Odyssee. So überdauert die Ritterwelt als ein Symbol exotischer Ehrenkodexe und Kraftbündelungen in Büchern, Kinderzimmern oder Herr-der-Ringe-Fantasyfilmen. Oder eben in der Kunstwelt. Doch letztlich weist das Rittertum auf die menschliche Kampfoptimierung, Ritter tragen Waffen, ist einfach so, eigentlich verkörpert alles an ihnen die Idee des Kampfes. Und wenn die Waffe auch nur ein gedrechseltes Stück Lampenfuß ist – sie ist eine!

An dieser Stelle kommt der Kunstraum ins Spiel, in welchem als Schutzraum für ästhetische Diskurse die Waffe Lampenfuß als mentaler Teilchenbeschleuniger zum Einsatz kommen kann. Indem er uns über unser Konsumverhalten und unsere sozialen Hierarchien nachdenken lässt. Indem er Underdogaufwertungsgedanken nährt. Indem er einen frohen Akzent setzt, um etwas nicht leicht Aushaltbares erträglich macht: Hier und heute leben wir im Überfluss – während anderswo Entscheidendes fehlt!

Brinkmanns Bilder, Sammlungen, Objektkästen, Segment-Anordnungen, Vitrinen, Assemblagen, seine Skulpturen, Filme, Wand-, Raum, Haus-Installationen rufen als zauberhaft hinarrangierte Fundstücke unserer Zivilisation noch einmal das Private auf, mit allem, was dazugehört, wenn keiner hinguckt.

Die eleganten Erscheinungen dieser Arrangements geben unseren ins Vergessen gesunkenen Lebenswirklichkeiten wieder etwas Erinnerungskultur und Würde zurück.

Heutzutage gilt die irgendwo im 20. Jahrhundert verdunkelte Welt der laminierten Schrankwände, der Mustertapeten, des Gelsenkirchener Barocks als Ausdruck der sozialen Verlierer, wir können sie täglich in Dokusoaps bei RTL II studieren. Doch es ist zu einfach, sich über Gelsenkirchener Barock lustig zu machen. Aus Brinkmanns Arbeit spricht keinerlei Überheblichkeit, kein Triumph des einen Soziotops über das andere – viel eher ist es eine Feier des „Dings an sich“.

Thorsten Brinkmann rückt Übersehenes subversiv in den Focus und macht es auf eine Neue und frische Weise wieder entdeckbar. Wir dürfen unsere Sinne daran schärfen.

Für mich ist der Grundwesenszug seiner Arbeit Empathie: Ich sehe dieses Werk als eine kompositorische, auch humorvolle Aufwertung des Wertlosen, der abgeschriebenen Lebensentwürfe – nicht als ein spotten über ästhetische Underclassgewohnheiten. Dieser Ansatz entfaltet in der High-Class-Sphäre, wie heute dem Gegenwartskunstraum der Herbert-Gerisch-Stiftung, seine besondere Kraft.