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Für den fensterlosen, lediglich mit Schießscharten versehenen Raum im ersten Geschoss des ehemaligen Grenzwachturms hat Tina Born einen kristallinen Körper konzipiert, einen unregelmäßigen Dodekaeder von glatter, glänzender Oberfläche, die nichts über seine innere Beschaffenheit verrät. Im engen Raum wirft seine Anwesenheit Fragen auf, zuallererst die, auf welche Weise er hineingekommen ist. Mit seinem Umfang ist der Körper zu groß für die Öffnungen, durch die man den Raum betritt. Das harte spiegelnde Schwarz seiner Oberflächen, die das Licht reflektieren, lässt ihn nicht nur als Fremdkörper erscheinen, sondern verleiht ihm auch die Aura von schlummernder Macht, imstande, mit seinen scharfen Kanten die Haut der ihn umschließenden Architektur zu verletzen. Die Form irritiert damit nicht nur den Betrachter, sie stellt auch eine Irritation der Architektur dar, vergleichbar mit einem schmerzhaften Einschluss, einer kristallinen Form, die in einem Organismus heranreift, bis sie, größer geworden, permanente Reibung und Schmerz erzeugt, eventuell sogar zum Kollaps seiner Umgebung führt.

In seiner schwer begreifbaren Form, naturhaft einerseits, Gegenstand komplexer mathematischer Berechnungen und wissenschaftlicher Spekulation andererseits, hat der Dodekaeder seit jeher eine starke Faszination auf die Menschen ausgeübt. Die Assoziationen, die der aus zwölf Fünfecken zusammengesetzte Vielflächer weckt, waren und sind vielfältig. Es gibt berühmte Belege in der Kunstgeschichte, wie beispielsweise Dürers Kupferstich „Melencholia I“ von 1514, diverse Zeichnungen M.C. Eschers oder Salvador Dalís Gemälde „Das letzte Abendmahl“. Im 20. Jahrhundert geisterte er als magischer Stein von meist extraterrestrischer Herkunft durch Science Fiction-Literatur und -Filme. Allen Vorkommen gemeinsam ist die Faszination für einen immer noch rätselhaften Körper, der für Platon als fünfter platonischer Körper das Weltall verkörperte. 2003 stellte ein französisch-amerikanisches Forschungsteam die These auf, die Form des Weltalls entspräche einem in sich geschlossenem Dodekaeder und verlieh damit der Theorie des antiken Wissenschaftlers Aktualität – auch wenn die These bisher nicht bewiesen werden konnte.

Im Turm zwingt die räumliche Enge den Besucher, sich dem schwarzen Körper dicht anzunähern. Die Kontaktaufnahme dabei ist unvermeidlich. Unvermeidlich auch, dass die glatten Oberflächen mit seinem Spiegelbild ihr Spiel treiben. Dieser Umstand lässt sich als direkter ikonografischer Bezug verstehen: Dürers berühmter Dodekaeder in „Melencholia I“ enthielt ein Geheimnis, das erst Anfang der 1930er Jahre gelüftet wurde. Da entdeckten Kunsthistoriker in dem hellen Schatten auf einer seiner Flächen ein Bildnis, vielleicht ein Selbstbildnis Dürers. Giacometti rekurrierte auf diese Entdeckung, als er 1934 mit der Bronze „Der Kubus“ ebenfalls eine Dodekaeder-Form schuf, in die er ein flaches, nahezu unsichtbares Selbstbildnis eingravierte. Die Plastik, der er auch den Titel „Pavillon Nocturne“ gab, offenbart ein verwirrendes Raumverständnis, in der die kleine Form gleichzeitig Innen und Außen, Ausschließendes und Einschließendes, Kopf und Weltraum ist.

Mit dem Titel „Pavillon Nocturne“ spielt Born mit der zweifachen Auslegung: dem Bezug auf Giacomettis Werk und der Möglichkeit, die dunkle Vergangenheit des Wachturms, der seiner ursprünglichen Funktion enthoben und von einer Parklandschaft umgeben ist, als "nächtlichen Pavillon" zu betrachten.

LETZTE ÜBERPRÜFUNG ist ein Projekt des Kunstfabrik am Flutgraben e.V. und wird von Svenja Moor und Ines Tartler geleitet.

Pressetext

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Tina Born
Pavillon Nocturne
Projekt: LETZTE ÜBERPRÜFUNG