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Laut einer politikwissenschaftlichen Studie der Friedrich-Schiller-Universität Jena aus dem Jahr 2003 plädieren 23 Prozent der Thüringer für eine Rückkehr zur sozialistischen Ordnung. Und 58 Prozent schätzen die DDR eher positiv als negativ ein. Dabei ist vom Denkraum DDR und seinem ideologischen Stützapparat nach Prozessen der historischen Entladung, Klärung und Erneuerung nur seine Aura geblieben. Die Rezeption der DDR wandelte sich im Zeitraum von 1989 bis heute mehrfach. Beginnend mit Schock und Erleichterung, über Freude und Euphorie, Ernüch-terung und Zorn bis hin zu Verlustängsten verschoben sich die Wahrnehmungen. Im Ergebnis dessen entsteht das Gedankenkonstrukt eines "verlorenen Landes", das es so nie gab. Eine Auseinandersetzung mit ihm scheint aktuell und notwendig zu sein. Wie spiegelt sich jener Wahrnehmungsprozess in der Kunst?

Anfang der 1990er Jahre richtete sich der Blick vornehmlich auf die Dinge, die man im Begriff war, reihenweise wegzuwerfen und die doch eine reizvolle Schönheit oder Exotik besaßen. In diese Zeit gehören auch Fotodoku-mentationen von brachliegenden Werksgeländen, Kulturhäusern oder Kasernen der NVA und der Roten Armee. Später kommt zu dieser zeitgenössischen Praxis des Spurensicherns, Sammelns und Dokumentierens eine Neukontextuali-sierung der DDR-Motive hinzu. Sie werden beispielsweise westdeutschen Alltagserfahrungen gegenübergestellt oder treten in Zusammenhängen auf, die ihre Herkunft verschleiern. Erst langsam beginnt sich der künstlerische Blick vom Gewese-nen der DDR – Erinnerungsbruchstücken, traditionellen Bezugsgrößen, mehr oder weniger subtilen Erbe-Metaphern – zu lösen und das Bestehende oder künftig Mögliche vor dem Erfahrungshorizont DDR in Betracht zu ziehen. Denn zeitgenössische Kunst kann Vergessenes wieder ins Gedächtnis holen, ohne rückwärtsgewandt Jahrestage zu feiern, kann Entwertetes mit aktuellem Gehalt versehen, ohne Mythen zu reproduzieren. Sie verfolgt biografi-sche Linien, ohne Erfahrungen zu verklären oder Schmerz, Wut und Absurdität zu negieren.

Zwei Dutzend Positionen aus fünfzehn Jahren (1989-2004) belegen die gesellschaftliche Kampfkraft der Kunst. Bettina Allamoda nähert sich über den weiten Umweg der sowjetischen und amerikanischen Raumfahrt der DDR, Peter Bauer bevorzugt die direkte Oral History, um eine DDR-Vergangenheit herbei zu zitieren. Laurenz Berges hält eine andere, die verlassene Kasernenwelt, fotografisch fest, deren Inneres revitalisiert Amanda Dunsmore. Nachbilder von der zentralen Repräsentationsarchitektur der DDR produzieren Nina Fischer und Maroan el Sani. Film-Denkbilder nahm Jean-Luc Godard in der Zeit des Mauerfalls auf dem Weg nach Westen auf. Den Ausverkauf des Ostens bannen Katharina Hohmann und Stefan Dornbusch auf Plakate. Birger Jesch nimmt kartografisch Spitznamen ernst und offenbart DDR-Männersehnsüchte über die fallende innerdeutsche Grenze hinweg. Die deutsch-deutsche Demarkationslinie zehn Jahre nach ihrem Fall beschallt Peter Kees. Herwig Kipping malt filmisch den dörflichen Alltag im fiktiven Stalina der frühen DDR. Von der aktuellen Transformation einer städtischen Großwohnsiedlung erzählen Anne König, Axel Doßmann und Jan Wenzel anhand von fünfzehn Biografien. Autobiografisch zeigt Wiebke Loeper den Wandel der Plattenbauten Ostberlins. Aus in Plattenbauten geborgenen Lichtschalterabdeckungen stellt Cornelius Mangold funktionale, unikate Souvenirs her. David Mannstein macht die Worte eines Weimarer Schriftsetzers leuchtend sichtbar. Maix Maier spielt mit original kopierter, an Walter Womackas "Junges Paar am Strand" orientierter Kunst im Interieur deutscher Wohnzimmmer. Gegenstände, die sich DDR-Bürger vom Begrüßungsgeld kauften, trägt Peggy Meinfelder zusammen. Marcel Ophüls relativiert dokumentarfilmisch die Wiedervereinigungseuphorie der Deutschen, Felix Ruffert beschäftigt sich mit Violett, der Lieblingsfarbe von nur einem Prozent der Deutschen und Haarfarbe Margot Honeckers. Die weilte anlässlich von Goethes 150. Todestag in Weimar, wo auch Pavel Schnabels Langzeitdokumentation über den DDR-Alltag und die Irritation nach dem rasanten Wandel gedreht wurde. Dessen New Yorker Kollegin Shelly Silver hingegen befragt Ost- und Westberliner nach Phrasen wie Demokratie, Sozialismus, Heimat.

Angeschoben wurden die Überreichweiten mit dem Projekt "Erfahrungsaustausch" an der Bauhaus-Universität Weimar, von dem vier ausgewählte Positionen in die Ausstellung aufgenommen wurden: Katja Heseler und Anja Hoppe bewerben im ostdeutschen Reklamestil das damals beliebteste Duftschaumbad. Das für seine Gehirnwäsche-Methoden berüchtigte, kafkaeske Stasisystem metaphorisiert hingegen Jens Rudolph, wenn er einige der 180.000 Meter gefüllter Aktenregale des Geheimdienstes per Kamerafahrt passiert. Gundula Ulonska und Ursula Meyer machen die Worte des besagten Weimarer Schriftsetzers hörbar und koppeln sie mit den Ergebnissen ihrer biografischen Recherche im zeitgemäßen SMS-Format. Die Biografie eines kubanischen Gastarbeiters in der DDR veranlasste Sibylle Windisch und Nicole Wolf zu dessen Fotoportraitreihe vor heimischer Kulisse.

Eine Ausstellung des ACC in Kooperation mit Katharina Tietze und Ronald Hirte. Mit freundlicher Unterstützung des Thüringer Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst, der Stadt Weimar, des ACC-Förderkreises.

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Überreichweiten
Zur Wahrnehmung der DDR in der aktuellen Kunst

mit Bettina Allamoda, Peter Bauer, Laurenz Berges, Amanda Dunsmore, Nina Fischer / Maroan el Sani, Jean-Luc Godard, Katharina Hohmann / Stefan Dornbusch, Birger Jesch, Peter Kees, Herwig Kipping, Anne König / Axel Doßmann / Jan Wenzel, Wiebke Loeper, Cornelius Mangold, David Mannstein, Maix Mayer, Peggy Meinfelder, Marcel Ophüls, Felix Ruffert, Pavel Schnabel, Shelly Silver, Katja Heseler / Anja Hoppe, Jens Rudolph, Gundula Ulonska / Ursula Meyer, Sibylle Windisch / Nicole Wolf (Projekt "Erfahrungsaustausch")