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Im Mittelpunkt von "The Short and The Long of It" steht ein Ereignis, in das Uriel Orlows Ausstellung prismatische Einblicke ermöglicht, ohne ein vollständiges Bild davon zu zeichnen. Durch den Fluss der suggestiven visuellen Elemente und Erzählmodi wird unsere Interpretation der sorgsam zusammengestellten Bilder und Texte angeleitet, so dass die Entschlossenheit unserer eigenen Neugier das Ausmaß unseres fragmentarischen Verständnisses bestimmt. Die Installation bezieht sich auf einen Vorfall, der sich während des Ausbruchs des Sechstagekrieges bzw. des Junikrieges 1967 zutrug. Der Konflikt zwischen Israel, Ägypten, Jordanien und Syrien zeichnete den Graben zwischen den USA und der UdSSR im damaligen Kalten Krieg sowie den andauernden arabisch-israelischen Konflikt nach. In Kürze: Nach schwerem Artilleriefeuer und wegen auf beiden Seiten des Suezkanals gesunkenen Trawlern saßen 14 Frachtschiffe verschiedener Nationalitäten im Großen Bittersee – einem ausgedehnten Seebecken in der Mitte des Kanals, wo die Schiffe einander passieren, bevor sie wieder in die einspurigen Wasserwege einfahren – für die Dauer von acht Jahren fest. Im Auge eines politischen und militärischen Sturms gründete diese zufällige Ansammlung von kommerziellen Seefahrern die ‚Great Bitter Lake Association’ (GBLA), ein übernationales Bündnis, dessen Hauptziel erstens darin bestand, zu überleben; zweitens, eine funktionierende Gemeinschaft unter den Schiffen zu schaffen; und drittens, die kommenden Tage, Monate und Jahre auszufüllen. Wie in einem Mikrokosmos spiegelt sich in der GBLA die Entstehung von Zivilisation. Bald erweiterte sich das Programm zur Sicherung des Überlebens um stabile Kommunikationsstrukturen, formell organisierte Freizeitaktivitäten und gelegentliche Frivolitäten. Durch speziell entworfene Poststempel wurde der See de facto zu einem Territorium erklärt, das sich in die globalen Geografien eingliedert, während an Bord der Schiffe ausgetragene Olympische Spiele das, was Noam Chomsky den „irrationalen Nationalismus“ der offiziellen Olympischen Spiele bezeichnete, in eine übernationale Geste spielerischer Solidarität und Widerstands verwandelten. Die GBLA könnte demzufolge als eine utopische Gesellschaft verstanden werden, in der die Antagonismen zwischen den Nationen, Glaubensbekenntnissen und Klassen beseitigt wären. Die Bestimmung eines Schiffes, sich immerzu fortzubewegen, und der Globalismus, den es verkörpert, setzen es dem territorialisierenden Grabenkrieg, der hier wütete, entgegen. Die Wirklichkeit mag weniger idealistisch gewesen sein, berücksichtigt man, wie die kommerziellen Schifffahrtgesellschaften darauf beharrten, dass die Besatzung zum Schutz der Schiffe und der Fracht an Bord bleiben müsse; eine Order, nach der die Fäuste nun lediglich gegen Plünderer statt gegeneinander gerichtet waren. Orlow gibt keine Hinweise darauf, welche Interpretation er bevorzugt. Er vermeidet es, eine bestimmte Politik nahezulegen und regt stattdessen zu umfassenden historischen, formellen oder theoretischen Schlüssen an. Diese werden in der Bandbreite von Medien, Formaten und Genres weiter in eine prismatische Reflexion verschiedener Zeitrahmen zergliedert. Ein Video verknüpft alte Fotografien und Super-8-Filme von Mitgliedern der Schiffsbesatzungen mit Bildmaterial, das der Künstler in jüngster Zeit vor Ort in Ägypten aufgenommen hat. Dieses Video wird mit einer Reihe von Text-Dias kombiniert, die Momente von historischem Belang, allgemeiner Bedeutung oder persönlichem Interesse aus den acht Jahren, in denen die Schiffe festgesetzt waren, benennen. Diese dreifache, von der Chronologie der Erfahrung losgelöste Gegenüberstellung der Ereignisse steigert die Komplexität von Übereinstimmung, Folge und Ablösung und lässt die Zeit als gefaltet erscheinen und Kausalität in alle Richtungen ausstrahlen. Dies erzeugt den Eindruck, dass die wogende Fläche von Salzwasser gewissermaßen quer durch die Zeit kommuniziert. Die Sammlung von gefundenen Materialien spannt ein ähnlich dynamisches Informationsfeld auf, in dem die historische Repräsentation mit Fakten, Assoziationen, Symbolismen und Poetiken durchschossen ist. So werden Bilder von einem Stapel lagernder Apfelkisten beispielhaft für den durch die Sperrung des Kanals abrupt unterbundenen Kapitalfluss; ein Schnappschuss von einem Mann in Frauenkleidern weist auf die soziosexuellen Auswirkungen der Gefangenschaft hin; Orlows Zeichnungen von Fischen, die vom Rotem Meer in das wärmere Mittelmeer umsiedeln, drücken Begeisterung über den Erfindungsreichtum der Natur und deren kontinuierliche Rhythmen der Bewegung unter den reglosen Rümpfen der Schiffe aus, während das nüchterne Bild eines Diakastens uns an Archivprozesse erinnert, durch die die Vergangenheit konserviert und sichtbar gemacht wird. Doch während Nostalgie den Schmerz der Trennung von einer persönlichen Vergangenheit ausdrückt und Historiografie sie mit Rationalität zusammenfasst, gewinnt Orlows mannigfaltige Präsentation eine Geschichte zurück, die getragen wird vom Potenzial der Bestimmbarkeit.

Sally O’Reilly

Zu den jüngeren Einzelausstellungen von Uriel Orlow zählen Projekte bei Laure Genillard, London (2010); Les Complices*, Zürich (2009); Habres & Partner, Wien (2009); Jewish Museum New York (2008-9); Blancpain Art Contemporain Genf (2008-9) und Argos Brüssel (2008). Beteiligung an Gruppenausstellungen in jüngerer Zeit: Hydrarchy, Gasworks, London; Over the Counter, Kunsthalle Budapest; Yesterday Will Be Better, Aargauer Kunsthaus; The Revenge of the Archive, Center for Photography, Genf; Us, South African National Gallery, Kapstadt; Paradise is Somewhere Else, Galerie Anita Beckers, Frankfurt, und Jerwood Drawing Prize, Wanderausstellung in GB. Weitere Ausstellungen / Screenings: Tate Modern London; Third Guangzhou Triennial at Guangdong Museum of Art China, Kunstmuseum Bonn, ICA London, Whitechapel Gallery London, Shedhalle Zürich, Internationales Kunstfilmfestival Oberhausen, Locarno Film Festival, Visions du Réel, Nyon, und Biennale of the Moving Image, Genf. Orlow hat zahlreiche Künstlerbücher und Publikationen veröffentlicht.