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URSULA BIEMANN VIDEOGEOGRAFIEN

Eröffnung der Ausstellung Samstag, 5. September 2009, 17 Uhr Laufzeit 6. September bis 25. Oktober 2009

Die investigativen Videoessays von Ursula Biemann setzen sich mit Themen der Mobilität und der Migration auseinander. In künstlerischen Feldforschungen unter-sucht die Zürcherin umstrittene Territorien der Welt und formuliert komplexe humane Geografien, mit all ihren Nebenwirkungen und undokumentierten Bewegungen. Parallel zur Ausstellung von Ursula Biemann zeigt das Helmhaus Zürich die Ausstellung von Hannes Rickli.

Die Palästinenser sind in den Nachrichten dauernd präsent. Aber wann hat man je ein Statement eines Flüchtlings gehört? Wann hat man je etwas über Strukturen in Flüchtlings-lagern erfahren? Wann ist ein Journalist mit der Kamera durch die engen Gassen eines Flüchtlingslagers gegangen? Wie sieht es überhaupt aus da? Wie funktioniert das soziale Leben, der Austausch untereinander? Und was denkt eine Juristin, ein Historiker, eine Anthropologin über das Thema?

Das Thema der Migration aus Afrika nach Europa ist in den Nachrichten dauernd präsent. Aber wann hat man je Statements von Migranten gehört? Wann hat man je etwas über die Organisation auf den Migrationswegen erfahren? Wann ist ein Journalist auf einem mit Waren und Menschen vollbepackten Lastwagen gesessen, der sich auf die beschwerliche Reise machte? Warum hat die europäische Fischereipraxis und die Uranförderung etwas mit den Flüchtlingsströmen zu tun? Und was denkt ein Schlepper, ein Polizist, ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes über das Thema?

Es sind dies nur zwei Themenkreise, die Ursula Biemann in ihren Videoarbeiten befragt. Sahara Chronicle zum Thema der Transitmigration nach Europa ist darum eine äusserst beeindruckende künstlerische Arbeit, weil sie die Dinge von innen zeigt, auf Augenhöhe mit den Betroffenen - und weil sie dabei ganz sachlich bleibt und ohne weinerlichen Kommentar auskommt. Migration wird nicht als zum Scheitern verurteiltes Spektakel vorgeführt, sondern als alltägliche, historisch, kulturell und ökonomisch bedingte Praxis, die dem logistischen System einer Nischenökonomie folgt. So sind Biemanns Bilder der Reiseabfertigung vor einer grossen, lebensverändernden Reise denn auch erstaunlich unaufgeregt - und diese Unaufgeregtheit macht sie umso eindrücklicher.

Die insgesamt vier Videoinstallationen von Ursula Biemann, die im Helmhaus ausgestellt sind, und ihre vier früheren Einkanalvideos, die auf einem Monitor individuell eingesehen werden können, verbindet eine konsequente Beschäftigung mit Themen der Mobilität, Grenzen und Migration. Globale Migrationsbewegungen werden vor dem Hintergrund weltumspannender Informationssysteme untersucht. Ursula Biemann hat eine eigene ästhetische Sprache entwickelt, mit der sie umstrittene Territorien der Welt erforscht, von der kaspischen Ölgeografie zur Transitmigration durch die Sahara, von der amerikanisch-mexikanischen Grenze, Orten des Frauenhandels in Südostasien, bis hin zu Flüchtlingslagern im Nahen Os-ten.

Die räumlich-konzeptionellen Anordnungen der Videoessays entsprechen den Besonderheiten ihrer geografischen Inhalte. Die in Europlex (2003) beschriebenen zirkulären Grenzbewegungen fordern eine andere Videostruktur als die verdeckte, netzwerkartige Transitmigration von Sahara Chronicle (2006-2008), die nur in Form von dokumentierten Knotenpunkten und Grenzübergängen auf einzelnen Videostationen und Projektionsflächen im Ausstellungsraum sichtbar werden. Black Sea Files (2005), eine umfassende Recherche über die kaspische Ölpipeline, wird hingegen als lineare Installation von zehn synchronisierten Monitoren präsentiert. Contained Mobility (2004) kommt als schlichte Doppelprojektion daher; sie stellt die technologische Bildwelt der post-9/11-Mobilitätskontrolle einem inszenierten Flüchtlingsdasein im Container gegenüber. Die jüngste Arbeit, X-Mission (2008), schichtet schliesslich verschiedene Expertendiskurse zur übereinander.

Ursula Biemanns Videoessays zeichnen sich - mit den Worten der Künstlerin - dadurch aus, . Auf ihren Forschungsreisen versteht sich Biemann als ; sie bezieht ihre Materialien aus Feldforschung, Videoaufzeichnungen vor Ort, Interviews mit Experten, Materialien aus Archiven und virtuellen Informationsquellen und theoretischen Texten. In einer nicht-linearen, vielschichtigen Erzählstruktur und mit einem weichen, subjektiven Voiceover kreieren die Videos eine komplexe huma-ne Geografie der globalen Mobilität, mit all ihren Nebenwirkungen und undokumentierten Bewegungen.

Die Videoarbeiten von Ursula Biemann (geb. 1955, lebt in Zürich) sind weltweit in Kunstmuseen und Kunsthallen, an Filmfestivals sowie im universitären und aktivistischen Kontext gezeigt worden. Sie trugen unter anderem zu Biennalen in Istanbul, Liverpool, Shanghai, Gwangju, Sharjah, Thessaloniki, San Diego und Sevilla bei. Nachdem sie sich als Künstlerin in Boston, Mexico und New York (Whitney Independent Study Program) ausgebildet hat, arbeitet Ursula Biemann neben ihrer Haupttätigkeit als Künstlerin inzwischen auch als Theoretikerin und Kuratorin, initiiert kollaborative Forschungsprojekte und ist Herausgeberin von mehreren Büchern. Sie forscht am Institut für Theorie an der Zürcher Hochschule der Künste und erhielt 2008 im Zusammenhang mit einer Retrospektive im Bildmuseet im schwedischen Umea den Ehrendoktor in Humanwissenschaft der Universität Umea.

Dieses sozialpolitisch brisante Werk ist in der Schweiz, wo Ursula Biemann von 1995 bis 1998 auch als Kuratorin an der Zürcher Shedhalle gewirkt hatte, bisher immer noch wenig bekannt. Die Ausstellung im Helmhaus Zürich ist Biemanns erste Einzelausstellung in einer Schweizer Kunstinstitution.

Ursula Biemanns Arbeit Black Sea Files knüpft thematisch nahtlos an eine Ausstellung an, die dem Helmhaus Zürich im Frühjahr dieses Jahres eine fünfstellige Besucherzahl eingebracht hat: die Ausstellung des Zürcher Fotografen Daniel Schwartz. Von Zentralasien geht die Reise nun weiter mit Biemanns Recherche zu einer Ölpipeline, die das kaspische Meer mit dem Mittelmeer verbinden soll. Wenn in journalistischen Reportagen über Öl meist das grosse Geld und technologische Aspekte im Vordergrund stehen, kommen hier auch einfache, direkt betroffene Menschen zu Wort: jene, die unter politischem und ökonomischem Druck ihr Land für den Bau der Pipeline hergeben müssen oder Frauen aus den ehemaligen sozialistischen Republiken, die der Pipeline entlang in die Sexindustrie migriert sind.

In Contained Mobility inszeniert sich ein weissrussischer Biologe als blinder Passagier in einem Container. Aus dieser konzeptuellen Arbeit geht allerdings nicht eindeutig hervor, welche Anteile Fiktion und welche faktische Aufzeichnung sind, welche Bilder aus Überwachungskameras stammen und welche lediglich visualisierte Datenmengen sind. In der Gegenüberstellung vermitteln sie die ständige Spannung zwischen dem unstillbaren Bedürfnis nach migrantischer Selbstbestimmung und governementaler, ökonomischer Mobilitätssteuerung.

Kunst ist für Ursula Biemann ein Medium, um die Welt verstehen zu lernen - weniger im Sinne einer Entdeckung von Unbekanntem, sondern vielmehr von der Idee motiviert, bestehendes Wissen zu einem ästhetischen Komplex zu organisieren, aus dem neue Bedeutungszusammenhänge hervortreten können. Es geht somit weniger um ein Dokumentieren von Wirklichkeit, als um ein Organisieren von Komplexität. Biemanns Videoessays verknüpfen die subjektive Wahrnehmung als Augenzeugin mit den Thesen der wissenschaftlichen Theorie aus den unterschiedlichsten Disziplinen. Die historische, politikwissenschaftliche, geografische, soziologische, ethnographische und anthropologische Dimension, die Erkenntnisse der feministischen Theorie und der Postcolonial Studies verknüpft Biemann mit ihrer eigenen Wahrnehmung vor Ort, mit ihren Beobachtungen im Schatten der journalistischen Schlaglichter.

Indem sie wissenschaftliche Theorie mit künstlerischer Praxis gegenschneidet, hat sich Ursula Biemann ihr eigenes, transdisziplinäres Genre geschaffen. Sinnliche Wahrnehmung und theoretische Reflexion ergänzen sich, Biemann arbeitet in einer , wie Jörg Huber, Leiter des Institut für Theorie an der Zürcher Hochschule der Künste in seinem Aufsatz festhält (Jörg Hubers Aufsatz ist einer der sieben theoretischen Essays in der kürzlich bei Cornerhouse Publisher in Manchester erschienenen Monografie über Ursula Biemanns Werk: .)

In dieser Verschränkung von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Kunst, sind die Videoessays von Ursula Biemann eigenständige Beispiele von sinnlicher Theoriearbeit und von kritischer Kunst. Wenn zuvor von der Formulierung komplexer humaner Geografien die Rede war, die neu geordnet und organisiert werden, zielt das darauf hin, dass Biemanns Arbeiten nicht entlang geradliniger Erzählstrukturen zu einfachen Erkenntnissen führen.

Im Gegenteil: Sie schärfen das Bewusstsein für Widersprüche, für die Komplexität der Zusammenhänge, für die Unruhe in unseren Weltbildern. , so Jörg Huber.

Während Ursula Biemann bestehende und eigens generierte Wissensquellen zu vielstimmigen ästhetischen Montagen organisiert, transferiert der Zürcher Künstler Hannes Rickli in einer parallel präsentierten Ausstellung im Helmhaus Zürich audiovisuelles Material aus der naturwissenschaftlichen Forschung in den Kunstraum. Biemann montiert Expertenwissen mit eigenen Eindrücken, Rickli verwendet überschüssiges Material aus der wissenschaftlichen Forschung in einem künstlerischen Umfeld. Beide Künstler schöpfen Mehrwerte aus der Montage und dem Transfer von wissenschaftlichem und theoretischem Material in den Kunstraum. Indem sie sich Material aus Forschung und Wissenschaft aneignen, erforschen sie die Produktion von Wissen - und schaffen ihrerseits neues Wissen, über die Wissenschaft hinaus, indem Kunst immer auch selbstreflexiv ihre eigene Tätigkeit transparent macht und zur Diskussion stellt. Beide Künstler versinnlichen somit theoretisches Material. Und tragen ihrerseits zu einer weiterführenden, transdisziplinären Theoriebildung bei.

Im Medium Video lässt sich die Ereignishaftigkeit sowohl von sozialpolitischen Geschehnissen wie von wissenschaftlicher Forschung exemplarisch vorführen. Aus Ursula Biemanns Arbeit geht hervor, wie konstruiert Information, die uns tagtäglich als Master-Narrative zum Beispiel auf CNN vorgeführt wird, eigentlich ist: wie selektiv und interpretiert, wie fluid und flüchtig. Biemanns Arbeit sensibilisiert für die verdrängten Nebenstränge von Information, für Widersprüche und Gegensätze. Statt Mainstream-Information für bare Münze zu nehmen, umkreist sie Informationspakete, schaut, was sich hinter ihnen verbirgt, wie sie zu Stande gekommen sind und was sie ausblenden. In diesem Sinn ist ihre Arbeit im Wortsinn kritisch - konstruktiv kritisch, weil aus der Differenz ihrer Haltung zum kritisierten Gegenstand neue Information generiert wird. Das Medium Video eröffnet Biemann Möglichkeiten, die Konstruiertheit von Information zu dekonstruieren - und ihrerseits neue, differenzierte, vielstimmige Information transparent zu kommunizieren. Biemanns Video-Erkundungen widmen sich Gegengeografien, die sich durch verdeckte Operationssysteme, durch innovative Widerstandspraktiken und migratorische Selbstbestimmung herausbilden. Mit dem Betreten von off-limit Zonen, geheimen Leitwegen, klandestinen und virtuellen Territorien visualisieren die Videos eine subversive geografische Praxis und gehen der Frage nach, inwiefern sich Künstlerinnen und Künstler in diese symbolischen und materiellen Räume einschreiben können.

Hannes Rickli hinterleuchtet demgegenüber die Stabilität wissenschaftlicher Ergebnisse. Er zeigt die suchenden Schritte auf und erhellt die Fülle des Materials, die ihnen zu Grunde liegen - und er hinterfragt die Motivation ihrer Autoren in Interviews. So erscheint Wissenschaft bei Hannes Rickli als fragiles, anfänglich im Dunkeln tappendes, von Individuen gelenktes und dennoch von Zufällen abhängiges Konstrukt. Auch Ricklis Sicht auf die Wissenschaft ist im besten Wortsinn kritisch - konstruktiv kritisch, weil die Freisetzung der wissenschaftlichen Bilder im Kunstraum neue Lesarten der Bilder eröffnen.

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Ursula Biemann
Retrospektive der videografischen Forschungsprojekte 1998-2008