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Chagall und Deutschland – das ist die komplizierte, ein Leben lang andauernde Wechselbeziehung zwischen einem der bedeutendsten Künstler der Moderne und einem Land, das zu Anfang des 20. Jahrhunderts einen ungeheuren künstlerischen Aufbruch erlebt hatte, der jedoch durch den Nationalsozialismus abrupt beendet wurde. Der Zweite Weltkrieg und der Zivilisationsbruch von bis dahin ungekanntem Ausmaß erschütterten die deutsche Identität nachhaltig und erzwangen eine geistige Neuorientierung nach 1945. Die Rezeption Chagalls in Deutschland von 1913 bis heute spiegelt seismographisch all diese Erschütterungen. Heute sind seine Werke sowohl zu Zeugnissen dieses Zivilisationsbruches geworden als auch zu Sinnbildern eines universalen, Länder und Kulturen übergreifenden Humanismus.

Die Ausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt und der Stiftung „Brandenburger Tor“ in Berlin präsentiert Chagall aus einem neuen Blickwinkel, indem sie sich der kulturhistorischen Auseinandersetzung mit seiner Kunst sowie der Reaktion des Künstlers auf diese Vorgänge widmet. Chagalls Bilder werden damit in eine doppelte Perspektive eingebunden: sie werden aus der Sicht zeitgenössischer Sammler, Auftraggeber und Künstlerkollegen präsentiert und zugleich als Dokumente der Geschichte.

Analog zu den Perioden der Auseinandersetzung des deutschen Publikums mit Chagall ergeben sich drei Ausstellungsteile: Chagall als jüdischer Künstler der Moderne in Berlin Chagall wird als herausragender jüdischer Avantgarde-Künstler von einem kleinen, engagierten Publikum gefördert und gesammelt (1913-1933) . Zu seinen Förderern gehören die bedeutenden Galeristen Herwarth Walden, Paul Cassirer und Joseph Beer-Neumann. Während seines Berlin-Aufenthaltes 1922-23 erlernt er bei Hermann Struck und Joseph Budko die graphischen Techniken, die seinem Werk entscheidende neue Perspektiven eröffnen. Im Auftrag Paul Cassirers entsteht der Zyklus der Radierungen mit dem Titel „Mein Leben“.

„Entartete Kunst“ - der Künstler bezieht Stellung gegen Unmenschlichkeit Bereits 1933 werden Chagalls Werke diffamiert und ab 1938 zum Inbegriff „entarteter Kunst“ im Nationalsozialismus. Die beschlagnahmten Arbeiten, darunter viele Meisterwerke seiner ersten Pariser Zeit, werden gegen Devisen ins Ausland verkauft. Chagall reagiert auf die Ausgrenzung des jüdischen Volkes und die Schoa mit neuen, metaphernreichen Werken, die sich mit der Kreuzigung als Inbegriff des Leidens auseinandersetzen.

Biblische Botschaften und Versöhnung Nach dem zweiten Weltkrieg beginnt das deutsche Publikum Chagall als modernen Maler zu entdecken. Sein Werk bereitet wesentlich den Weg zum Verständnis moderner, auch abstrakter Kunst. Gleichzeitig werden vor allem Chagalls biblische Darstellungen als Zeichen der Versöhnung wahrgenommen.

Marc Chagall und Deutschland – eine Einführung Chagall wurde ähnlich wie Van Gogh als bedeutender Künstler der Moderne bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland entdeckt. Zu den Käufern seiner Werke gehörten deutsche jüdische und nichtjüdische Sammler, die sich für Avantgarde-Kunst interessierten. Eine zentrale Rolle der Vermittlung spielt dabei der Kunstkritiker und Galerist Herwarth Walden. 1912/1913 lernte er Chagall in Paris kennen und stellte von da an seine Werke regelmäßig in der Berliner Galerie 'Der Sturm' aus. Durch die kontinuierliche Ausstellungstätigkeit Herwarth Waldens wurde Chagall, der während des Ersten Weltkrieges wieder in Russland lebte, ein berühmter, aber gleichwohl als Person unbekannter Künstler, dessen Werke nicht nur in Privatsammlungen hingen, sondern auch in den Museen von Frankfurt, Mannheim, Essen und Dresden. In deutschen Sammlungen befanden sich Gemälde, die heute zu den absoluten Meisterwerken Chagalls zählen, wie etwa ‚Ich und das Dorf’,1911, ‚Golgotha’, 1912 (heute beide MOMA New York), ‚Der Fuhrmann’ 1912, ‚Die Prise’, ca. 1921 (heute beide Kunstmuseum Basel), ‚Der Soldat trinkt’, 1912/1913, ‚Paris durch das Fenster gesehen’, 1913 (heute beide in der Solomon R. Guggenheim Foundation, New York) und ‚Russland, den Eseln und anderen’, 1911 (heute Musée National d’Art Moderne, Paris).

1922 verließ Chagall Russland für immer und arbeitete von Mai 1922 bis Oktober 1923 in Berlin, bevor er sich endgültig Ende 1923 in Paris niederließ. Der kurze Aufenthalt in Berlin wurde entscheidend für seine künstlerische Karriere, da er hier bei Hermann Stuck und Joseph Budko die Kunst des Holzschnitts und des Radierens erlernte. In Berlin schuf er im Auftrag Paul Cassirers den ersten radierten Zyklus: ‚Mein Leben’. Dies geschah in einer Zeit, als Berlin eine Hochburg jüdischen Kunstschaffens war. Hier arbeiteten so bedeutende jüdische Künstler wie Jakob Steinhardt, Ludwig Meidner, El Lissitzky, Issachar Beer Ryback, Jankel Adler, die Chagall kannte und die, wie er, gerade in ihren Graphiken ihre jüdische Identität zum Ausdruck brachten. Viele dieser Graphiken dienten gleichzeitig als Textillustrationen. Chagalls Zyklus zu seiner Biographie ‚Mein Leben’ verschränkt Textinhalte und Bild auf eine vollkommen neue Weise und bestätigt auch darin seine herausragende Stellung als jüdischer Künstler. Gleichzeitig machten ihn dieser Zyklus von Radierungen als modernen Graphiker international bekannt. Die in Berlin erlernten graphischen Techniken eröffneten Chagall ein neues künstlerisches Tätigkeitsfeld, mit dem er sich bis ans Lebensende immer wieder beschäftigt hat.

Bis 1933 war Chagall ein anerkannter Maler der Moderne, auch und gerade in Deutschland, wo bedeutende Museumsdirektoren wie Georg Swarzenski und Gustav Friedrich Hartlaub seine Bilder ankauften. Schon 1933 gerieten diese Ankäufe ins Visier nationalsozialistischer Propaganda. Bei der Ausstellung „kulturbolschewistische Bilder“ in Mannheim wurde Chagalls berühmtes Gemälde ‚Die Prise’ zusammen mit einem Gemälde Jankel Adlers auf einem Handkarren durch die Straßen gefahren und verhöhnt. 1938 wurden alle Chagall-Gemälde und Aquarelle aus öffentlichen Sammlungen beschlagnahmt und vier davon auf der Ausstellung "Entartete Kunst" gezeigt (‚Purim’ aus dem Folkwang Museum Essen, ‚Die Prise’ aus der Kunsthalle Mannheim, ‚Der Winter’, ‚Männer mit Kuh’ - zwei Aquarelle aus der Städtischen Galerie im Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt am Main). Die beschlagnahmten Bilder wurden danach in der Schweiz gegen Devisen verkauft. Sie sind heute in namhaften Museen über die ganze Welt verstreut. Nahezu dasselbe Schicksal erlitten die Werke aus Privatbesitz, z.B. aus der umfangreichen Sammlung Herwarth Waldens, die sich heute in den USA und in der Schweiz befinden.

Chagall selbst hat sich mit der sich anbahnenden deutschen Gewaltherrschaft in Gemälden wie ‚Einsamkeit’ 1933; ‚Die Zeit ist ein Strom ohne Ufer’, 1933/1937 auseinandergesetzt. Als er von der Pogromnacht 1938 erfährt, entsteht ein Hauptwerk: ‚Die weiße Kreuzigung’ (Art Institute in Chicago). Dieses Thema greift er in der Folgezeit immer wieder auf, um Gewalt und Mord anzuprangern (z.B. ‚Die gelbe Kreuzigung’, heute als Leihgabe im Musée d'art et d'histoire du Judaisme, Paris). In seinen Radierungen zur Bibel, die er 1931 beginnt, setzt er sich gleichfalls mit den Themen Schuld und Sühne, Rache und Verdammnis auseinander, manche Darstellungen wie die Prophezeiungen der Zerstörung Jerusalems erscheinen geradezu als Metaphern auf zeitgenössische Katastrophen. Chagall kann die bereits begonnenen Radierungen zur Bibel in Frankreich nicht mehr vollenden, sondern muss 1944 vor den Deutschen fliehen. Erst nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil kann er diese Serie 1952-1956 fertig stellen. Bei Erscheinen ist die Auflage sofort vergriffen, unter den Käufern sind jetzt wieder deutsche Kunden, z.B. Bernhard Sprengel aus Hannover.

In den 1950er Jahren wird Chagall erstmals wieder in Deutschland ausgestellt und erweist sich jetzt als Publikumsmagnet. Mit seinen Bildern wird der Wunsch nach Versöhnung assoziiert, Bilder wie "Moses erhält die Gesetzestafeln" und die Radierungen zur Bibel werden zu Ikonen dieses Gedankens stilisiert. Gleichzeitig beginnen Museen mit den Rückkäufen einst beschlagnahmter Bilder und mit Neuerwerbungen. In Frankfurt erwirbt die Adolf-und-Luisa-Haeuser-Stiftung das Gemälde „Commedia dell’Arte“ samt zugehörigen Entwürfen für das Foyer des neuen Schauspielhauses. Im Zeichen dieser politisch erwünschten Versöhnung erhält Chagall als schon sehr alter Künstler den Auftrag für die Neugestaltung der Fenster von St. Stephan in Mainz, woran sich die Landesregierung Rheinland-Pfalz beteiligt; sie werden sein letztes Werk, das er noch vollenden kann. Pressetext

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Verehrt und verfemt - Marc Chagall und Deutschland