press release only in german

Ort:
KW/RANDLAGE Art/Space im Haus6, Findorffstraße 6, Worpswede
30.05.2021 - 30.06.2021

VISIONEN, HIMMEL & GELEE

Rebekka Kronsteiner, Francisco Valença Vaz, Felix Dreesen, Ina & Markus Landt
In Kooperation mit Bhima Griem und Volker Schwennen

gefördert von STIFTUNG KUNSTFONDS / NEUSTART KULTUR

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VISIONEN, HIMMEL UND GELEE
Camouflage / Botcha

Rebekka Kronsteiner und Francisco Valença Vaz thematisierten die Historie des haus6 und wollten sich mit ihrer Arbeit sowohl dem Raum als auch den geschichtlichen Veränderungen auf eigensinnige Weise annähern. Sie sind keine Zeitzeug:innen noch Bewohner:innen des Ortes, können nur dem Erzählten, all den Geschichten und Mythen über Worpswede Glauben schenken. Die Möglichkeit einer eigenen Überprüfung der Wirklichkeit von Vergangenem bleibt ihnen zum gegenwärtigen Zeitpunkt verwehrt. Wie aber können sich Raum und Zeit in ihrer Arbeit widerspiegeln?

Durch die Suche nach Materialresten vergangener Momente im Außenraum des Ausstellungsortes, generierten sie die Formelemente ihrer gemeinsamen Arbeit im Innenraum. Diese Fundstücke dienten ihnen als Grundlage für Abgussmodelle, welche sie aus Gelatine formen, einem Material mit zeitlich einhergehendem Potential der optischen Veränderung durch Verflüssigung und darauffolgenden „Erstarren“. Gelatine besteht aus Schlachtabfällen im weitesten Sinne, aus eingekochten Knochen und Kalbsfüßen, denn die in der Knochensubstanz enthaltene Gelatine ist für das Gelieren verantwortlich. Ein erster Bezug zur Schlachterei mag gefunden, ein weiterer womöglich zur Bäckerei, denn die gallertartige Konsistenz lässt sich wie Teig kneten. So lassen sich neue Strukturen und Formen kreieren. Die Modelle allein zeugen lediglich von der Abwesenheit realer Materialien.

Kronsteiner und Vaz integrieren Fundstücke der Vergangenheit und kontextualisieren diese innerhalb der Gegenwart, wobei sich durch die Vergänglichkeit des Materials gleichermaßen eine begrenzte Zukunft der Arbeit abzeichnet. Dabei machen sie sich die Techniken der Camou-flage, des Tarnens und Täuschens, des Verschmelzens und Überlagerns von Figur und Raum mit dem Untergrund und der Umgebung zunutze. Die Camouflage wurde nicht nur künstlerisch, sondern bereits im ersten Weltkrieg für kriegerische Zwecke genutzt, um den Feind zu täuschen, indem Muster von Kleidung und Maschinen dem jeweiligen Hintergrund angepasst wurden. Selbst Landschaften wurden mit Camouflagetechniken, so dem Einsatz von Attrappen, verändert. Was ist real, was ist zu Illusion führende Täuschung? Das jahrzehntelange Klaffen einer riesigen Lücke, nämlich die Zeit der Nazi-Diktatur in der Geschichte Worpswedes, steht geradezu plakativ Pate für diese Technik des Verschleierns und des Verdrängens.

Der von ihnen für ihre Arbeit gewählte ebenerdige „Kachelraum“ hat einen gefliesten Boden und seitlich halbhoch gekachelte Wände, ein Fenster und eine gegenüberliegende Tür. Durch das Fenster aus sechs kleinen, zweireihig angeordneten Scheiben kann nur durch die beiden oberen hindurchgesehen werden, da die vier unteren aus blickdichtem Strukturglas bestehen. Vom Hof aus kann nicht direkt in den vormals als Küche genutzten Raum geschaut werden. Damit dies nun möglich wird, baute Bhima Griem ein Podest, auf welches Besucher:innen hinaufsteigen können. Von dort aus schauen diese auf verschiedenfarbige und unterschiedlich geformte Camouflage-Elemente aus Gelatine herunter.

Im Laufe der Zeit würde das Gelee langsam zusammensacken, sich dabei miteinander verbinden und sich wie eine klebrige Honigmasse auf dem Grund ausbreiten. Alles nähert sich an, Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen miteinander, dynamische Vorgänge entstehen, deren Deutung sich auf unterschiedliche Weise manipulierend oder erinnernd auslegen lassen – so die Vorstellung. Es kam jedoch anders. Nach zwei Wochen schimmelte die Gelatine, ein intensiver, stark stechender Gestank breitete sich in den Ausstellungsräumen aus. Das Werk erlebte ein frühzeitiges Ende und wurde von Rebekka Kronsteiner entfernt, wobei eine Gasmaske zum Einsatz kam – so unerträglich war der Geruch.

Das erkennbare Äußere wurde in den Innenraum verlagert und einer natürlichen, dem Material geschuldeten Dekonstruktion unterzogen, welche keines direkten Eingriffs mehr bedarf. Durch die Zerstörung des Werks wird ein kritischer Blick auf die Gegenwart gerichtet.

Hier setzt auch eine weitere Arbeit an, die mit „Botscha“ betitelt wurde. Zum einen lässt diese Bezeichnung an den Namen „Gotcha“ erinnern, welcher umgangssprachlich für „Alles klar“ steht, gleichzeitig Name eines „Spiels“ ist, welches heute auch Paintball genannt wird. Hierbei jagen sich Spieler:innen mit Druckluftwaffen und verwenden als Munition Farbkugeln, die zunächst aus gefüllten Gelatinehüllen bestanden. Doch vielmehr ist „Boccia“ gemeint, die italienische Form des Boule-Spiels, bei dem versucht wird, aus größerer Entfernung mit Chromkugeln mal an eine kleinere Holzkugel zu treffen oder andere Kugeln wegzustoßen. Sind wir als Betrachtende die Holzkugel oder die aus Chrom, das bleibt im Ungewissen. Mal sind wir nah dran am Geschehen, mal werden wir hinausgeworfen. Fünf Kugeln auf einem Untergrund, jedes Objekt geformt aus Plexiglas, finden sich auf einer kleinen Wiese vor dem haus6. Zuvor warf Bhima Griem eine Chromkugel mit Wucht an die Holzplatte der Nebeneingangstür, wo sie ein Loch hinterließ. Dort, wo die Kugel landete, wurde die sechste „Halbkugel“ platziert. Bedingt durch das Material und die Sonnenbestrahlung verschwanden die Gelatinekugeln bereits nach einem Tag, hinterließen auf der Wiese noch für ein paar Stunden einen leicht schleimigen Rest. Nach dem Entfernen der verschimmelten Gelatine-Objekte im Innenraum wurden sechs „Halbkugeln“ erneut gegossen und im Raum verteilt gesetzt – diesmal aus Seife.

Die Arbeit von Rekekka Kronsteiner und Francisco Valença Vaz ist ein skulpturaler Versuch der Annäherung des Bremer Künstler:innen-Duos an den Ausstellungsort, die Umgebung, das Dorf und deren Bewohner:innen sowie die Geschichte Worpswedes. Durch die Transparenz des Materials bleibt der Untergrund sichtbar, tritt jedoch durch die konvexe Ausformung innerhalb der Betrachtung nur leicht verzerrt in Erscheinung.

Visionen, Himmel und Gelee
Camouflage / Botcha
Rebekka Kronsteiner
Francisco Valenca Vaz
30.05. - 30.06.21
KW/R Art/Spaces haus6

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HIMMEL ÜBER WORPSWEDE
PARABELFLUG
FELIX DREESEN

Ein Parabelflug ist ein besonderes Flugmanöver, dessen Zweck das Erreichen von Schwerelosigkeit beschreibt, also einen Zustand, in der die Gewichtskraft auf den Körper nicht spürbar ist. Um einen solchen Zustand zu erreichen, darf es also keine Behinderung durch Gegenkräfte finden. Auf der Erde ist Schwerelosigkeit nur dann möglich, wenn die Gravitations- bzw. Anziehungskraft räumlich konstant ist, was jedoch lediglich durch eine Simulation erreicht werden kann. Felix Dreesen begibt sich also mit einem Segelflugzeug auf die Reise nach Worpswede, erlebt die Kräfte, die mal erhöht, mal verringert werden und interessiert sich für das Verschieben der Horizontlinie und die körperliche Erfahrung im „Luftraum Worpswede“. Vor allem aber möchte er bei einem Parabelflugmanöver genau diesen Zustand der Schwerelosigkeit erreichen. Das Schweben und das Erreichen eines kurzanhaltenden Zustands der Schwerelosigkeit als künstlerische Position zu beschreiben, verleitet zu einer metaphorischen Überhöhung. Womöglich aber täuscht oder provoziert uns der Künstler mit diesem Akt. Vielleicht mag es nur ein Schauspiel sein, welches unseren Blick zum Himmel lenken soll.

Gerade in Worpswede erwarten viele Menschen einzigartige Himmelserscheinungen eines breiten, weiten Wolkenspiels oder das oft sehr farbenfrohe Spektakel, welches gar als „Himmelsoper“ beschrieben wird. „Der Worpsweder Himmel ist in der Tat ganz besonders. Wie jedes ordentliche Worpsweder Kind habe ich die Malschule besucht. Da mussten wir auch den Himmel malen, was ich immer als besonders nervig empfand“3, erzählte der in Worpswede aufgewachsene Schriftsteller Moritz Rinke. Und der Dichter Rainer Maria Rilke schwärmt wie all die anderen Worpsweder Maler der ersten Künstlergeneration vom Himmel: „Es ist ein seltsames Land … Wenn man auf dem kleinen Sandberg von Worpswede steht, kann man es ringsum ausgebreitet sehen, ähnlich jenen Bauerntüchern, die auf dunklem Grund Ecken tiefleuchtender Blumen zeigen. Flach liegt es da, fast ohne Falten. Und die Wege und Wasserläufe führen weit in den Horizont hinein. Dort beginnt ein Himmel von unbeschreiblicher Veränderlichkeit und Größe.“ 4 Keine touristische Broschüre, welche nicht von diesem Himmel spricht. Aber ist dieser wirklich so einzigartig? Gibt es solche Himmelsopern nicht fast überall auf der Welt? Ist der Himmel über Worpswede nur einem Marketing zu verdanken, welches den Verweis auf die erste Generation von Landschaftsmalern und deren Verbindung von Natur und Mensch, deren Form des Ausdrucks eigener Befreiung von damals geltenden bürgerlichen Konventionen spiegelt?

Felix Dreesen „bereist“ nicht nur den Worpsweder Himmel, sucht nicht nur die Schwerelosigkeit, sondern verweist mit einem Objekt im Schaufenster des haus6 ganz gezielt auf diesen – mittels eines so platzierten Spiegels, dessen Bild den außenstehenden Betrachtenden nur die Wolken sehen lässt. Indem er dem Himmel den Spiegel vorhält, hält er ihn auch uns vor. Machen wir uns womöglich etwas vor? „Die Kunst hat den Menschen kennengelernt, bevor sie sich mit der Landschaft beschäftigte“5, schrieb Rilke.

Quasi im Auftrag des Künstlers Dreesen sollten Bhima Griem und Volker Schwennen einen Text (oder ein Zitat) aussuchen, um dessen Arbeit zu ergänzen, der dann im Siebdruckverfahren auf einen transparenten Vorhang aufgebracht werden sollte. Die beiden entschieden sich für die Songzeile des eher unbekannten amerikanischen Countrysängers Paul Brandt: „Don‘t tell me, the sky is the limit / when there are footprints on the moon.“ 6 Dieses Zitat findet sich geradezu inflationär auf Holzbrettern, Tassen und mehrfach auf Postkarten oder gerahmten Posterwerken – so wird der Vorhang auch eine ironisch-kritische Anspielung auf die zahlreichen, oftmals sehr kitschigen Souvenirs, die auf bizarre Weise auf den „Künstlerort“ Worpswede bezogen sind. „Kitsch ist das Echo der Kunst“, schrieb einst Kurt Tucholsky7 und der Kultur- und Zeitkritiker Sigismund von Radecki brachte es noch besser auf den Punkt: „Kitsch ist Kunst, gescheitert am fehlenden Widerstand.“8

Himmel über Worpswede
Parabelflug
Felix Dreesen
30.05. - 30.06.21
KW/R Art/Spaces haus6