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WALID RAAD. Sweet Talks

05.11.2020—23.01.2021

Aufgrund des Corona-Lockdowns müssen wir auf eine Vernissage verzichten. Die Ausstellung wird ab morgen, Donnerstag, den 5. November von 16 bis 19 Uhr und anschließend zu unseren regulären Öffnungszeiten zu sehen sein. Wir freuen uns auf Ihren Besuch und bitten Sie die Hygienemaßnahmen zu beachten.

Existenz, Wahrnehmung, Kunst. Alles verändert sich unter dem Einfluss von Gewalt. Die Wahrheit wird verformt, in eine Krise gestürzt, ihre Darstellung unklar. Diese Wahrheit, egal ob faktisch, fiktiv oder deformiert, zu dokumentieren, zu archivieren und zu erforschen, widmet sich der libanesische, in New York lebende Künstler Walid Raad.
Dem ersten Teil der Ausstellung, welche die Galerie Sfeir-Semler als Kommentar zu der Explosion in Beirut diesen September eröffnet hat, und bei der Walid Raads Film Sweet Talk Commissions (Solidere: 1994-1997) zu sehen war, folgt nun der zweite Teil: eine Einzelschau des Künstlers mit dem Titel Sweet Talks.

Geboren und aufgewachsen während des Bürgerkriegs im Libanon, verschreibt sich der Künstler seit 1999 mit seinem Projekt The Atlas Group der Dokumentation der jüngsten Geschichte seines Landes. Der fragmentierten Historie begegnet Raad mit fiktiven Narrativen und lässt dadurch eine alternative, eine denkbare Wahrheit entstehen, wobei der dokumentarische Gestus angezweifelt und der Authentizität von schriftlichen, bildlichen sowie audiovisuellen Dokumenten misstraut wird. Die Fotoserie I want to be able to welcome my father in my house again bildet die Seiten aus dem Tagebuch von Walid Raads Vater ab, welche detailliert die Granaten, die während des Krieges um sein Haus fielen, dokumentieren. Sie werden ergänzt durch Notizen zum freien Fall des libanesischen Pfunds sowie die Preise für Baumaterialien. Raad nutzt das eigentliche Tagebuch seines Vaters um ein imaginäres Dokument zu erstellen, das die historischen, wirtschaftlichen und ästhetischen Charakteristika der verdichteten Kriegserfahrungen schildert.

Die Ausstellung präsentiert auch Raads laufendes Projekt Scratching on things I could disavow, welches die Kunstgeschichte der arabischen Welt untersucht. Dieses Projekt wurde in den frühen 2000er Jahren initiiert, als neue Kunstinfrastrukturen in der Region entstanden. Es untersucht wie Kunstwerke die historischen Ereignisse und soziopolitischen Entwicklungen antizipieren und darauf reagieren. Während die Arbeiten der Atlas Group die Geschichte durch die Dokumentation ihrer Motive nachzeichnen, sind die Motive bei Scratching on things I could disavow von äußeren Einflüssen geprägte Subjekte selbst. Die neue Werkserie des Künstlers fungiert als Brücke zwischen den beiden Projekten. Die monumentale Skulptur I feel a great desire to meet the masses once again, zusammengestellt aus Holzkisten für Kunsttransporte, hinterfragt die Erhaltung von Denkmälern in Zeiten des Krieges. Die zu Beginn des Krieges 1975 in Beirut abgebauten und eingelagerten Monumente haben aufgrund mangelnder Anleitungen zu ihrem Wiederaufbau neue Formen angenommen. Theatralisch beleuchtet wirken sogar ihre Schatten eher simuliert als natürlich.
Das Phänomen der Schatten setzt sich in der Arbeit Letters to the reader fort. Bei einem Besuch des neuen Museums für Arabische Kunst in Beirut wird Raad von dem Fehlen der Schatten der präsentierten Werke irritiert. Er fragt sich, ob diese zerstört wurden oder verloren gegangen sind, und kommt zu dem Schluss, dass die Schatten das Interesse an ihren Wänden verloren haben. Walid Raad kommentiert das Phänomen indem er eine Serie von Museumswänden mit ausgeschnittenen, schattenähnlichen Formen schafft. Die Arbeit und die dazugehörige Geschichte sind als Raads dringende Forderung nach einer entsprechenden Kunstinfrastruktur, welche die Kunst gegenüber den Auswirkungen von Gewalt bewahren kann, zu verstehen.

In ähnlicher Weise wie bei den monumentalen Skulpturen wird in der Arbeit Appendix 137 das Kunsthandwerk in Kriegszeiten unter besonderer Berücksichtigung der engen Beziehung zwischen libanesischen Künstlern, Milizen und ihren Uniformen untersucht. Das Zusammenbringen der inhaltlichen Ansätze der beiden Kunstprojekte, The Atlas Group und Scratching on things I could disavow, kommen immer öfter zum Ausdruck und beschreiben letztendlich das Immanente künstlerischer Produktion und politischer Umstände.