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Ein Jahr lang beobachtete Ulf Lundin die Familie eines Jugendfreundes, dessen Lebensweg sich von seinem eigenen stark entfernt hatte. Lundin versucht, sich der gelebten "Normalität" fotografisch anzunähern, lediglich den ganz gewöhnlichen, familiären Alltag zu dokumentieren. Er machte seine Fotos mit Einverständnis der Familie, jedoch im Einzelfall unbemerkt. So nahm er unwillkürlich die Rolle eines ums Haus schleichenden Voyeurs ein. Die kriminalistische Aura, die seinen eigentlich harmlosen Bildern anhaftet, mag mit der gewohnheitsmäßigen Rezeption von Kriminalfilmen zusammenhängen. Auch Daniel Roth spielt mit der Grenze zwischen Realität und Fiktion. Wie Alice im Wunderland taucht der Betrachter in eine geheime Welt fremder Dimensionen ein, unternimmt eine Reise quer durch die Welt, die unterirdische wie die oberirdische, wacht in einem Hotelzimmer in San Francisco auf, kriecht durch unterirdische Erdlöcher, besteigt Funktürme und landet in einem Schlafraum, der sorgfältig auf Papier mit Bleistift gezeichnet ist. Mit eingerahmten Zeichnungen, mit Fotos und Objekten schlägt Roth gleichsam eine historische Brücke von den Reiseromanen des 18. und 19. Jahrhunderts zu den heutigen Fantasy-Computerspielen. Bei Achim Beitz wird nicht nur der Betrachter, sondern auch ein Papiermännchen, das einer 3D-Konstruktionszeichnung entsprungen scheint, in seltsame Handlungen verwickelt. Werbeanzeigen bearbeitet der Künstler mit Papier und Schere. Daraus entsteht eine ganz eigene Form der Bildergeschichte. Die Präsentation als Diaprojektion verleiht der Miniaturhaftigkeit des originalen Arrangements wandfüllende Größe und somit physische Präsenz. In den frühen, um 1990 entstandenen Stoffbildern Timur Novikovs ist der Bildraum aufs Knappste reduziert. Die großen, einfarbigen Flächen lassen höchstens die Horizontlinie ahnen. Zeichenhaft erscheinen einzelne Gegenstände wie beispielsweise ein Panzerkreuzer oder eine rote Sonne am Horizont. Erst auf den zweiten Blick erkennt man hinter der reduzierten Symbolik die politische Kritik. Guy van Bossche taucht in die Fülle der durch die Medien vermittelten Bilder ein. Zeitschriftenfotos sowie Film und Fernsehen liefern die Motive, die der Antwerpener Künstler malerisch weiterverfolgt. Die immer wieder gestellte Frage, ob man heute "noch" malen könne, wird gleichsam ad absurdum geführt. Anstatt durch andere Bildmedien "überwunden" zu sein, macht van Bossche die Malerei gleichsam zum unüberholbaren Sieger eines Wettlaufs zwischen Hase und Igel. In den Bildern Linda McCue treffen sich Linien und Texturen aus der Computerbildwelt mit Formstrukturen, deren stilistische Provenienz vom Rokoko bis zum Pop reicht. Der Vielfalt der Bildelemente entspricht der Einsatz unterschiedlicher Techniken. Malerisch angelegte Ornamentflächen stehen neben feinen, linearen Gebilden, die den großformatigen Gemälden stets auch einen zeichnerischen Charakter verleihen. Constanze Ruhm setzt den Computer direkt als künstlerisches Medium ein. Dabei bezieht sich auf Wahrnehmungsmuster der Fotografie und des Films, dessen psychologische Dimensionen viele zeitgenössische Künstler anzuregen scheinen. Constanze Ruhm appelliert an ein filmisch geprägtes Bewußtsein, indem sie am Computer Bildräume konstruiert, die unwillkürlich an Filmsets erinnern, ohne daß konkrete cineastische Vorbilder zugrundeliegen. "Freizeitlandschaften" nennt Annette Kelm ihre sorgfältig kalkulierten Fotografien von Jahrmärkten und Vergnügungsparks. Sie sucht stets Blickwinkel und Perspektiven, die Realität und Fiktion, Park und Außenwelt, begehbaren Raum und Kulisse fast ununterscheidbar ineinanderfließen lassen. Eine andere Form von Freizeitlandschaft stellt die Insel von Cecile Noldus dar. Mitten im Ausstellungsraum und um eine Säule herum drapiert ist eine Stoffinsel entstanden. Eine Treppe führt die Besucher zu einem Schaumstoffgipfel, auf dem man sich bequem ausruhen kann. Die Materialqualität einer knautschigen Weichheit, mit der Cecile Noldus vorwiegend arbeitet, entstammt der Welt des Kinderzimmers, vielleicht aber auch den Wohnlandschaften der Hippiezeit. Nicola Torkes Keramikskulpturen hingegen haben betont harte Oberflächen, sind aber gleichzeitig sehr empfindlich. Die großen auf dem Rücken liegenden Kakerlaken mögen an Franz Kafkas "Verwandlung", aber auch an mutierte Insekten aus Science Fiction-Filmen erinnern. Das Furchterregende der Insekten ist jedoch in eine merkwürdige Hilflosigkeit umgekippt. Fast gleichnishaft stellt die Künstlerin die Emotionen und Gedanken, die wir mit bestimmten Dingen oder Lebewesen verbinden, auf den Kopf. Viele Arbeiten Nicola Torkes erscheinen wie Visualisierungen paradoxer Situationen. Verfremdungseffekte kennzeichnen auch die Collagen und Objekten von Ulrike Johannsen. Ikonen des Medienzeitalters erscheinen in monstranzartigen Gebilden, die auf die christliche Herkunft heutiger Verehrungsrituale verweisen. Für "Wunderwelt" greift Ulrike Johannsen in ihre Erinnerungskiste. Vergrößerte Farbkopien alter Familienfotos sind mit Textzeilen eines Liebesliedes von Billy Holliday collagiert. Künstler verehren nicht zuletzt künstlerische Vorbilder. Sich an ihnen zu orientieren, scheint besonders zu Beginn der Karriere wichtig, wenn noch eine Unsicherheit über den weiteren Weg besteht. Für seine erste Ausstellung suchte Nikolaj Recke den Rat seines Idols Robert Morris. Nachdem er monatelang Briefe geschrieben hatte, bevor sein Drängen den zurückhaltenden Morris zu einer Antwort bewegen konnte, entwickelte sich ein intensiver Dialog über die Regeln und die Gesetze des Kunstbetriebes, der in einer Videoaufzeichnung gekürzt zu sehen ist. Für die Eröffnungsausstellung der Galerie züchtete Recke einen 50m Weißkleeteppich, um den Eingangsbereich damit auszulegen. Der Einfluß von Minimal- und Concept Art ist spürbar, doch die Tendenz zur formalen Reduktion bedeutet bei Recke ebensowenig ein Streben nach Allgemeingültigkeit wie bei den anderen Künstlern der Ausstellung. Es handelt sich um eine Generation, für die auch die 68er-Zeit keinen persönlichen Erfahrungshintergrund mehr bildet. Die künstlerische Weltaneignung vollzieht sich jenseits politischer Programme und sozialer Utopien. Ganz unscheinbare Beobachtungen im Alltag können ebenso zum Ausgangspunkt der bildnerischen Phantasie werden wie die Welt des Films oder die künstlichen Paradiese Disneylands. Das sinnenfreudige Ausleben eigener Phantasiewelten geht jedoch einher mit einem Mißtrauen gegen universelle Geltungsansprüche. Wer sich nicht vorschreiben lassen will, wie er die Welt zu sehen habe, macht am besten seine eigene Welt sichtbar. Pressetext

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Wunderwelt / Die Fremdheit des Alltäglichen
mit Achim Beitz, Guy van Bossche, Ulrike Johannsen, Annette Kelm, Ulf Lundin, Linda McCue, Timur Novikov, Nikolaj Recke, Daniel Roth, Constanze Ruhm, Nicola Torke