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In einer zunehmend verworteten Welt auf der einen, einer zunehmenden Verbilderung und Verbildschirmung auf der anderen Seite ist das grundsätzliche Problem die Frage nach der Lesbarkeit der Bilder, der Kon-Texte, ja nach der Lesbarkeit der Welt. Wie stark dieses Bedürfnis ist, veranschaulicht etwa die Formel »I can read you«, den der CB-Funker in seinem LKW nicht etwa dem Nummernschild seines Vordermannes widmet, sondern seinem Gesprächs-partner im Funkverkehr, wenn er ihn gut verstehen kann. Dies aber hängt nicht nur von den Worten ab, die gewählt werden, sondern auch vom Klang der Stimme, von der Modulation des Gesprochenen. Lesen im Sinne von Verstehen erfordert immer einen Akt der Dechiffrierung.

Schrift und Bild hängen dabei wie Wort und Klang seit jeher eng zusammen. Schrift ist keine bloße Notation der Sprache oder des Gedankens. Bereits Jean Francois Champollion belegte dies bei der Entzifferung der altägyptischen Schriftzeichen auf dem Stein von Rosette. Diese stellten keineswegs nur eine Niederschrift vorweg gefasster Gedanken oder Sprachlaute dar, sondern ein Medium von eigenem Wert und dynamischem Charakter.

Der Zusammenhang von Schrift und Bild hat sich seit der Moderne und besonders seit den 60er Jahren dramatisch zugespitzt zu einem Spannungsfeld zwischen linguistic und pictorial turn, zu einer Entwicklung also, die sich mehr und mehr von der Textualität zur Bildlichkeit bzw. konkreten Materialität hin verlagert hat. Dies bedeutet einerseits eine verstärkte theoretische Aufmerksamkeit gegenüber Bildern. Andererseits aber ist dieser pictorial turn verbunden mit einer zunehmenden Vorherrschaft digitaler und technischer Bilder, welche andere Dar-stel-lungsverfahren hervorbringen als die herkömmlich ikonischen - und die oft wieder an frühe Traditionen von Schriftbildlichkeit und Bilderschrift erinnern. Keinesfalls sind die neuen Bildwelten nämlich wort- oder sprachlos. Die Frage aber ist, ob wir sie noch lesen können.

Lesbar war etwa dem Flaneur der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts noch vieles: »Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Schaufenster, Caféterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze, Seiten eines immer neuen Buches ergeben,« schrieb Franz Hessel 1929. Seither hat sich vieles getan, der Transit wurde beschleunigt, und zugleich hat sich die Lektüre verändert: die Toposphäre der Stadt, deren Eindrücke sich zu einem Buch fügen, ist einer Typosphäre fliegender Logos des freien Warenverkehrs gewichen, der Typus des Flaneurs hingegen wurde abgelöst durch den des Nomaden, des Flüchtlings, dessen allerdings nicht selbst bestimmte Akzeleration nur noch in ihrem Gegenteil aufgehalten wird – dem Arrest. Dort aber ist nur noch eine Lesbarkeit wichtig – die des Reisepasses. Dieser nämlich entscheidet über den legalen Bewegungsradius seines Besitzers, darüber, wer ungehindert passieren darf und wer gestoppt wird.

Pressetext

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ZeichenSätze

Künstler:
Burkard Blümlein, Bernhard Eberle, Manfred Erjautz, Loek Grootjans, Johannes Muggenthaler, David Neirings, Rudolf Huber-Wilkoff

Parallelstation:
Artothek München