21. Sep 2020

Alicja Kwade „Kausalkonsequenz“ in der Langen Foundation, Neuss Ausstellungsdauer: 07.09.2020 – 18.04.2021

Ein Beitrag von Lothar Frangenberg

Auf der Fahrt zur Ausstellung, über ausfransende Stadtränder hinaus entlang ausgedehnter, grünstaubiger Rübenfelder, gehen einem schwergewichtige Gedanken durch den Kopf. Die Kuratorinnen und Kritikerinnen schreiben den Arbeiten der Künstlerin Bedeutendes zu! Kwade spüre mit der ihr eigenen Skepsis den uns vertrauten Daseins-Zuständen nach und stelle vordergründige Blicke auf scheinbar Bekanntes prinzipiell in Frage. Sie fordere uns heraus, das uns geläufige Verständnis von Alltagsobjekten, ja Wertesystemen und Weltmodellen zu hinterfragen. Bestehen diese „Realitäten“, inklusive unserer Vorstellungen über Zeit, nur aus Vereinbarungen – aus tradierten kulturellen oder wissenschaftlichen Regelsystemen?

Die Fragen sind berechtigt, aber nicht neu! Stehen uns, wie so oft, über Kunstbetrachtungen hinaus, auch denkerische Kraftakte bevor? Selbst die vorbeiziehende Landschaft scheint sich unter dieser „Gedankenlast“, im Zweifel an vertrauter Wahrnehmung, puzzleartig aufzulösen. Merkwürdige Elemente driften am Auge vorbei, treiben auseinander. Realität oder Vexierbild: Was hält das Sammelsurium zusammen? Rauchenden Schlote als Wolkenmaschinen, Halden als ferne Höhenrücken, Windradstangen als dekorative Landmarken, Vogelgezwitscher und Autobahnrauschen.

Kein Wunder, dass der japanische Stararchitekt Tadao Ando angesichts dieser fast surrealen Landschaftscollage sein Ausstellungsgebäude für die Langen Foundation schützend und abgeschirmt hinter einen grünen Wall und eine theatralisch geschwungene Betonwand zurückgezogen hat. Lässt man letztere hinter sich, verwundert es nicht, auf eine weitere Irritation zu treffen. Vor dem Eingangsbau sind auf und zwischen Metallrahmen schwere, aber offenbar schwerelos schwebende Findlingsbrocken angebracht. Das Konstrukt wird von einer weiten, glitzernden Teichfläche reflektiert. Es ist eine der großen Arbeiten der Künstlerin vor Ort, die einem hier ins Auge springt („MatterMotion“, 2020 - Abb. 7, 8, 9). Sie scheint statische Regeln außer Kraft zu setzen und spielt mit Balance und Schwerelosigkeit. Die Aufgabe der häufig von ihr verwendeten Spiegel als Mittel raffinierter Täuschung übernimmt die flache Wasserfläche, die gefühlt an Tiefe gewinnt: ein interessanter Kommentar zu Andos Architektur.

Das Werk ist eines von drei gewichtigen, die sich explizit mit der Situation vor Ort und der Architektur auseinandersetzen. Mit einem weiteren („Die Menge des Moments“, 2016/2020 - Abb. 10) bespielt Kwade die monumentale, unbenutzte Außentreppe, die im Souterrain des Gebäudes endet. Steinquader, farbig der Architektur angenähert, sperren den Aufgang zum Gelände hin ab. Die Quader verwandeln sich die Treppe hinunter in immer runder und kleiner werdende Steinkugeln. Ein Ablauf, zwischen Stillstand und kullernder Bewegung eingefroren, der in beide Richtungen, auf- und abwärts wie eine gegenläufige Zeitskala lesbar ist. Mit der dritten Arbeit „Sub-Stance“ (Abb. 6) von 2019 errichtet sie im Souterrain ein Spiegelkabinett, in dem tatsächlicher Gegenstand und seine Spiegelungen in unserer Wahrnehmung durcheinandergeraten. Mit geschicktem Arrangement schafft Kwade es, auch spiegellose Rahmen als „Spiegelbilder“ erscheinen zu lassen. Objekte werden permanent virtuell gespiegelt oder real mit ihren künstlichen Duplikaten konfrontiert. Abbild, Nachbild Spiegelungen, Spiegelungen der Spiegelungen: Wo sind die Grenzen und Übergänge?

Die Künstlerin antwortet mit solchen Arbeiten, den wesentlichen der Ausstellung, anschaulich auf die örtlichen Gegebenheiten und gibt einen Ausblick auf ihre künstlerischen Intentionen. Sie demonstrieren, auch ohne weitere Infos, im Einsatz der überwiegend zeitlosen Materialien und Formen, ihr künstlerisches Vorgehen zwischen Konzept und skulpturaler Umsetzung. Theorielastige, gedankliche Überforderungen standen trotz anfänglicher Bedenken nicht an! Andere ihrer Arbeiten verlieren sich dagegen in den langgedehnten Raumfluchten der von Kwade selbst kuratierten Ausstellung.

Mit ihrem ausgeprägten Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen und philosophischen Denkmodellen schafft sie skulpturale Installationen, die sich im Kern immer um die Frage nach der Bedingtheit unserer Wahrnehmung und Erkenntnis drehen. Realität, Illusion, kulturell geprägte Vereinbarungen, gängige Kausalketten oder gewohnte, lineare Zeitabläufe: Es ist nichts so, wie es scheint. Ihre Skulpturen illustrieren permanent diese Überlegungen.

Bei allem Wohlwollen für die Darbietung auch anspruchsvoller gedanklicher Kost in künstlerischem Gewand stellt sich am Ende des Parcours eine gewisse Ermüdung ein. Ein zwiespältiger Eindruck macht sich breit. Natürlich will uns Kwade nicht belehren, aber die Ausstellung bekommt in der fortwährenden Variation von „Illusionen“, ihrem transformierenden Durchdeklinieren, einen didaktischen Zug. Gleichzeitig erscheinen ihre kreativen Untersuchungen in einer optisch hoch eleganten Verpackung bis hin zu designhafter, endlos gespiegelter Glätte. Das Vertrauen in die Wirkung der visuellen Erscheinung ihrer verfeinerten Materialästhetik ist der Künstlerin wohl nicht verloren gegangen. Sie will uns mit den artifiziellen Attraktionen zum weiteren Nachdenken verführen. Nur überblenden diese attraktiven Kunstwerke nicht die aufgeworfenen Fragen, statt kritisch zu verunsichern? Die Neugier wird zu sehr auf Oberflächenreize verlegt. Kwade unterläuft ihr konzeptuelles Denken mit der fortwährenden Präsentation materieller Veredelungsprozesse. Die unvermeidliche Auratisierung zum Kunstwerk zeigt tendenziell in Richtung Designobjekt. Solch künstlerische „Delikatessen“ führen schnell zur Überreizung und Übersättigung.

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