Einige Schlaglichter zur 'La Biennale di Venezia, 01.06.2013 - 24.11.2013
von Lothar Frangenberg

Wieder einmal Venedig: Die einst wirtschaftlich und kulturell so erfolgreiche "Gated Community" in der Lagune ist heute den Wasser- und Touristenströmen recht schutzlos ausgeliefert. Als allmählich verfallende Stadt vermag sie, je nach Annäherung, als Fata Morgana oder als potemkinsche Kulisse zu erscheinen. Sie lenkt als Speicher und Archiv ihrer eingelagerten Geschichte den Blick nicht nur genussvoll touristisch auf die Vergangenheit, sondern auch als ein städtisches "Memento mori" auf die Frage nach Relevanz und nachhaltiger Bedeutung dieser konzentrierten Akkumulation von Reichtum und Kulturgütern. So fokussiert erscheint die Stadt als Bühne für die Biennale und die Präsentation aktueller Hochkultur wohl abgenutzt, aber im kontrastierenden Aufeinandertreffen dennoch nicht verbraucht. Die Auffrischung gelingt gerade mit der Ausweitung des Ausstellungsparcours durch die vielen, auch kollateralen Anlaufstellen über die Giardini und das Arsenale hinaus in die Stadt und die Palazzi hinein – überkommener Prunk trifft auf neue Reichtümer, historische Sammlungen stehen Aktuellem gegenüber. Das Aufladen funktioniert.

Turm und Buch: großer Speicher, kleiner Speicher

Neben den vielen Palazzi vor Ort errichtet der Kurator Massimiliano Gioni für die zentrale, zweigeteilte Ausstellung im Arsenale und den Giardini vor unseren Augen leitmotivisch einen weiteren, den "Enzyklopädischen Palast": einen großen, zivilisatorischen Speicher als machtvollen, repräsentativen Prachtbau: eine merkwürdige Begriffsschöpfung und Vorstellung. Sie wirkt im Rahmen einer aktuellen Kunstausstellung eher anachronistisch und in Bezug auf den bespielten Stadtraum zu kalkuliert. Es wundert schon, dass Gioni dabei auf ein Projekt von Marino Auriti aus den 1950er Jahren zurückgreift, das die Arsenale-Schau einleitet. Gezeigt wird das Modell eines pompösen, babylonisch anmutenden Skyscrapers von 700 Meter Höhe, eine bauliche Fantasie, die sich als Turm mit demonstrativer und beherrschend dominanter Geste manifestiert. Er soll das Archiv des Wissens und der kulturellen Errungenschaften der Menschheit aufnehmen: die größtmögliche aller Sammlungen. Das auftrumpfende Einzelgebäude mit fragwürdigen Architekturzitaten kommt wie ein schwer zu schützendes und zu bewahrendes Fort Knox des Wissens daher und wirkt heute, in Zeiten dezentraler, vernetzter Datenströme, als zu naiv gedacht.

Das programmatische Pendant, die Präsentation des "Roten Buches" von C.G. Jung mit seinen mystisch anmutenden Illustrationen, führt in den zentralen Giardini-Pavillon ein. Das Buch kommt in der Art einer mittelalterlichen Handschrift daher und enthält neben den von Jung angefertigten Bildern begleitende, schwer verständliche Texte zur Reise durch die Welt seiner inneren Vorstellungen. Es entsteht eine imaginative Sammlung vermeintlicher Urbilder und Archetypen nicht nur seiner, sondern kollektiver menschlicher Erfahrungen. Das Unbewusste, als verortete Quelle des Kreativen, gibt sie frei. Die Jung´sche Bildwelt wirkt konstruiert und überlegt, bleibt aber auch in den eingespeicherten Anspielungen, wie auf testamentarische oder buddhistische Quellen, weitgehend verschlüsselt und rätselhaft. Sie gibt sich feierlich - offenbarend und geheimnisvoll zugleich.

So durch das imaginäre Projekt der kollektiven Sammlung und die Imaginationen aus dem kollektiven Unbewussten atmosphärisch eingestimmt, werden wir auf die Parcours geschickt. Durchaus konsequent werden außer den Professionellen kreative Autodidakten und Außenseiter, von Steiner über Crowley bis hin zu Schröder-Sonnenstern, präsentiert. In Gionis Sammlung finden sie alle Platz. Er legt uns über diese sich aus dem Unbewussten speisende Kunst das Irrationale, Geheimnisvolle und Untergründige nahe. Nur bedient er mit solchen Projektionen bekannte Klischees zur Kunst und ihren Protagonisten. Mit den "rätselhaften" Einzelobjekten ist das Auratische, Kostbare und Hermetische gegenwärtig, und die Präsentation gerät in Teilen arg museal. Seine in Interviews geäußerte Kritik am Umgang mit Kunst und den Begehrlichkeiten des Marktes und der Sammler stützt er damit nicht. Die kritische Distanz verliert sich in seinen "Wunderkammern", weil er als Kurator nicht dechiffriert, sondern den "Palast" als ein verklärtes Terrain belässt.

Die Schau misslingt deshalb nicht, aber man entzieht sich etwas überdrüssig immer wieder gerne dieser Atmosphäre und wendet sich Arbeiten der Professionellen wie der von Fischli/Weíss zu, den scheinbar ungelenken Tonskulpturen als launigen, und doch reflektierten Darstellungen aus Alltag und Geschichte.

Die Stadt und der Müll

Die Beiträge in den Länderpavillons standen weitgehend schon vor Bekanntgabe des Mottos der Biennale fest und sind daran nicht orientiert. Eine Ausnahme bildet der angolanische unter dem Titel "Luanda, Encyclopedic City", im Palazzo Cini: Zwischen den Sammlungsbeständen aus Renaissance-Bildern, Möbeln und Porzellan hat der Künstler und Fotograf Edson Chagas seine Arbeit arrangiert. Vor schweren Wandbespannungen und dunklem Holz trifft der Besucher überraschend auf hölzerne Paletten, die, im lockeren Verbund orthogonal zueinander, auf den Böden über die Raumfluchten verteilt, abgestellt sind. Auf ihnen stapeln sich turmartig großformatige Ausdrucke seiner Fotoarbeiten. Es handelt sich um 23 Arbeiten, die sich auf Angolas Hauptstadt beziehen - ausgekoppelt aus einem größeren, noch laufenden Projekt mit dem Titel "Found Not Taken". Durch die Anordnung mit beiläufig kalkulierter, skulpturaler Wirkung entsteht ein spannender Dialog im Gegenüber mit den gesammelten Kostbarkeiten westlicher Kultur. Der Besucher befindet sich auf diesem Kurs der Hindernisse nicht nur in ständig kreisenden Bewegungen, sondern auch in einem Auf- und Ab von Bücken und Aufrichten - die Ausdrucke sind zum Mitnehmen freigegeben. Der Blick nach unten zu den auf dem Boden platzierten Stapeln entspricht dem Blick des Fotografen auf die von ihm ausgewählten Motive: Abfälle auf den Straßen Luandas, ein Schuh, ein Metallgestell, ein Computergehäuse, ein Drehstuhl oder ein Karton: Unauffälliges und Unscheinbares mittig vor pastellfarbenen Wänden auf dem Boden liegend. Es sind isolierte Objekte in einem flachen, räumlich reduzierten Bildraum ohne Tiefe, stilllebenhaft ruhig gestellt. Der umgebende Stadtraum ist weitestgehend verbannt.

Chagas setzt seine Objekte einer konsequenten, gleichförmigen Bildanordnung aus und scheut sich dabei nicht, sie vom ursprünglichen Fundort weg in einen für ihn passenderen Kontext zu versetzen. So ergibt sich kein überquellender, analysierender Katalog verbrauchter Alltagsreste aus einer schnell wachsenden, afrikanischen Metropole – was man unter dem Titel erwarten könnte – sondern über Dokumentarisches hinaus kalkulierte, poetische gestimmte Bildkonstruktionen. Chagas eignet sich die Objekte an und gebraucht sie unter seinen Vorgaben wieder: eine Form künstlerischen Recyclings. Diese Art der Aneignung adelt die Gegenstände in der ästhetischen Überhöhung des Verlassenen und Achtlosen und gibt ihnen damit etwas Vertrautes zurück. Wir schauen nicht durch sie hindurch in einen fremden, städtischen Raum und seine Transformationen, sondern verharren bei ihnen. Insofern handelt die Arbeit von der anscheinenden Unmöglichkeit, einer "Enzyklopädie" des Städtischen, als fluktuierendem Alltags- und Projektionsraum, gerecht zu werden. Die Stadt als enzyklopädischer Speicher bleibt unanschaulich. Anschaulich dagegen wird der Vorgang des Sammelns und Entsorgens für den Besucher beim Umgang mit den Ausdrucken als Mitnahme- und Wegwerfartikel inmitten der kostbaren Sammlungen des Palazzo Cini.

Wieder aufgelegt - Bern 1969:

Der Kurator Germano Celant lässt sich auf eine Rekonstruktion der prägenden Ausstellung "When Attitudes Become Form" von Harald Szeemann in der Fondazione Prada ein. In dem ehrwürdigen Stadtpalast findet das Experiment statt, auch die Räumlichkeiten der Kunsthalle Bern minutiös nachzuformen. Der Grundriss der Kunsthalle wurde dafür so gedreht, dass er sich in die Raumfigur des Palastes integrieren ließ. Weiße Wände mit grauen Fußleisten nebst Heizkörpern, Parkettboden und Beleuchtung blenden den Altbau aus, kanten und schneiden gegen ihn. Die Übergänge bleiben sichtbar. Diese Wandteile enden jeweils kurz vor der Altbausubstanz und zeichnen als Negativformen vorhandene Vor- und Rücksprünge genau nach. Dennoch verschafft sich der Altbau immer wieder wuchtig mit seinen von Giebeln bekrönten Portalen und den bemalten, mit Pilastern bestückten Wänden Platz. Wie exakt, ja pedantisch man das Projekt im Einzelnen angeht, zeigt das Beispiel einer Arbeit von Richard Serra, für die die schwarz-weißen Bodenfliesen verlegt wurden, auf denen sie 1969 platziert war. Dagegen stehen die markierten Leerstellen auf Böden und Wänden entschuldigend für Arbeiten, die dort nicht präsentiert werden können.

Dieser räumliche und zeitliche Transport wirft die Frage nach dem Sinn der kuratorischen Anstrengung zu dieser Vergegenwärtigung auf. Celant mag die Möglichkeiten des Rekonstruierens befragen, indem er uns in ein paradoxes Dilemma manövriert: das Vorführen des Nichtwiederholbaren. Alle diese Namen: von Andre, über Beuys, Flanagan und Merz zu Serra oder Wiener - und alle diese Strömungen: Arte Povera, Concept Art, Earth Art… Viele dieser Künstler betonten die Prozesshaftigkeit und Einmaligkeit ihrer Aktionen vor Ort, weg vom fertigen Objekt oder autonomen Werk hin zum Vorgang des Produzierens und der Strategie. Die Vorstellungen, was Material und Gegenstand der Kunst sein könnten, erweiterten sich stark ins Alltägliche, allemal mit der kritischen Note, den etablierten Rahmen des Kunstestablishments zwischen Galerien und Museen aufzubrechen. Der Schritt weg vom Fertigen, vom zu erwerbenden Objekt, hin zum Situativen schloss natürlich den gesellschaftlichen Bewusstseinswandel mit ein.

Wir wissen längst: Der Markt hat zurückgeschlagen und flugs vereinnahmt. Aus den ruppigen Anti-Werken sind Preziosen geworden. Wenn man sich die durchaus spannende ideologische Fracht von damals vor Augen führt, wird spürbar, wie stark sich die Bedeutungsebenen mit der Rekonstruktion verzerrt haben. Erinnerungsarbeit bleibt allenfalls für Zeitzeugen. Das fast obsessive Erweitern der Grenzen wird theoretisch, das Raue und Ungefällige ist eingeschliffen, ohne provokative Sprengkraft. Aber etwas gelingt Celant: Was er in den enzyklopädischen Speicher der Biennale einspeist, erweist sich als wohltuend frisch, ja entmystifizierend gegenüber Gionis "Geheimnissen". Ohne diesen Ballast springt die Direktheit des Materials, die Einfachheit und das direkt An- und Zupackende vieler Arbeiten ins Auge. Dies täuscht nicht darüber hinweg, dass das einst große, konzeptionelle Gebäude hier vor Ort kleiner und bescheiden geworden ist. Die Umkehrung der Vorzeichen vom Prospektiven zum Retrospektiven ist nicht reversibel. Die den Palazzo überlagernden Räume der Kunsthalle Bern sind das räumliche 1:1-Modell für das "Modell" einer bedeutenden Veranstaltung.

Die Teppichhöhle

Betritt man das Parterre des Palazzo Grassi , eines der größten Palazzi in Venedig, Heimat der Sammlung François Pinault, steht man unmittelbar auf einem scheinbar vertrauten Grund: ein abgetretener, roter Orientteppich. Nur erstreckt er sich nahtlos ohne Anfang und Ende über den gesamten, überdachten Innenhof hinweg. Hier nutzt der Künstler Rudolf Stingel den noblen Rahmen für seine Teppichauslegeware. In den Obergeschossen wir das ehrwürdige Gebäude gnadenlos über Böden, Wände und Aufzüge hinweg eingehüllt und verkleidet. Der nähere Blick klärt auf. Das Muster hat Unschärfen und Brüche. Es handelt sich – wie bei Stingel zu erwarten – um die von Fotografien ausgehende, vergrößernde Reproduktion eines Teppichs und das soll sie über das Imitative und die Mimikry hinweg deutlich zeigen. Unten im Innenhof erscheint das ornamentale Muster noch maßstäblich, in den oberen Etagen entwickelt es durch Vergrößerung und Verzerrungen als bedrängendes Labyrinth der Ornamente ein dynamisches Eigenleben.

Stingel ordnet den einzelnen Ebenen des Gebäudes eine Auswahl seiner silbrig grauen Malereien zu, die ebenso auf Fotografien und Mustern beruhen. Sie besteht aus einem Selbstportrait im Erdgeschoss, - der ermüdet und allem überdrüssig wirkende Künstler - über abstraktere Arbeiten und ein Portrait des jungen Franz West im darüber liegenden Geschoss bis hin zur fotorealistischen Wiedergabe gotischer Holzskulpturen aus einem Buch aus den 1940er Jahren in der obersten Etage. Diese unübersehbar wirkungsvoll geplante Inszenierung hat in ihrer Thematisierung der Fragen nach Figur und Grund, Abbild und Abgebildetem und den vielfachen Wiederholungen und Endlossequenzen ein tautologisches Moment. Man wird immer wieder mit der Nase darauf gestoßen: Ein Bild ist kein Abbild, eine Reproduktion bleibt ein modellhaftes Muster. Die Diskussionen zum Thema gab es anlässlich moderner Kunstströmungen schon lange; Stingels Arbeit geht mit deren quasi formalisierten Entleerungen um. Damit unterwirft er seine Arbeit einem fortwährenden Prozess des Auslaugens, den er im Vorführen des Verbrauchten augenscheinlich macht. Ob dieses Unterfangen nur ermattende Geste bleibt oder noch stimulierende, kritische Kraft zur Befragung der Relevanz von Kunstproduktion entwickelt, sei dahin gestellt. Manchmal meint man, in seinen "Höhlen" mit ihm zu ermüden und melancholisch zu werden. Wenn Stingel in Bezug auf die Wirkung seiner Ausstellungen hin und wieder auf Psychoanalytisches und Freud verweist, so sehen wir uns zwar mit einem monströsen Teppichgewebe konfrontiert, aber das Sofa fehlt.

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55. Biennale Venezia 2013: La Biennale di Venezia, 01.06.2013 - 24.11.2013