05. May 2014

Ein Beitrag von Lothar Frangenberg zur Ausstellung 'Zum Beispiel Les Immatériaux' im Kunstverein Düsseldorf, 2014
von Lothar Frangenberg

Im Rahmen der Quadriennale 2014 in Düsseldorf unter dem Motto „Über das Morgen hinaus“ zeigt der örtliche Kunstverein die Ausstellung „Zum Beispiel ‚Les Immatériaux‘“. Dieser Titel verweist auf eine andere Schau, die 1985 im Pariser Centre Pompidou stattfand. Wer nun in Erwartung eines komplexen Ausstellungskonstrukts den Kunstverein betritt, ist überrascht. Der Anblick von Foyer und Ausstellungsraum ist ein vertrauter. Sie präsentieren sich auf den ersten Blick gewohnt aufgeräumt und sparsam bestückt – ein von einem disziplinierten Ordnungssinn geprägter White Cube. An weißen Wänden und auf grauem Boden sind mit forciert karger Möblierung und Präsentation, streng orthogonal ausgerichtet und mit viel Raum dazwischen, neben dokumentarischem Material künstlerische Einzelarbeiten oder kleine Werkgruppen platziert. So wandert der Blick des Besuchers, sich immer wieder immer neu fokussierend, von den minimalistischen Sitzbänken zu den filigranen Einzeltischen, zu kleineren Podesten oder der langen weißen, den Ausstellungsraum prägenden Tischreihe und den wenigen Arbeiten an den Wänden.

Um ein näheres Verständnis der Zusammenhänge zu gewinnen, führt kein Weg daran vorbei, sich intensiv mit dem kleinen Begleitheft zur Ausstellung (auch auf der Website des Kunstvereins bereitgestellt) zu beschäftigen und weiter in die eigene Recherche einzusteigen: Zum Team einer schon länger von der Architektur- und Designabteilung des Centre Pompidou konzipierten Ausstellung stieß der französische Vordenker der Postmoderne, Jean-François Lyotard, Philosoph und kein Ausstellungsmacher, hinzu. Er gab „Les Immatériaux“ die endgültige Gestalt und den kuratorischen Überbau. Der Ausstellungsparcours wurde als offenes Labyrinth konzipiert. Die Architektur des Centre Pompidou mit den in die Konstruktion eingehängten Geschossebenen als durchgängigen Plattformen mit außenliegender Infrastruktur kam dieser Idee entgegen. Im Sinne eines Gesamtkunstwerks wurden die Besucher über thematisch unterschiedliche und dennoch ineinander verschränkte Wegstrecken mit einer Vielzahl verschiedenster Eindrücke konfrontiert. Ohne Zwang, von variablen Rasterfolien statt Stellwänden geleitet, passierten sie Themenfelder z.B. aus den Bereichen Malerei, Industrie, Mode oder Ernährung. In die Kopfhörer, die sie trugen, wurden neben Radiosendern Botschaften, Text- und Musikelemente eingespielt. So entstand für den Besucher ein zwischen Materialität und Immaterialität wechselndes Kontinuum aus permanent zugeführten Daten und Reizen. Die heterogene Fülle sollte die überkommenen Vorstellungen von Material und seinen Erscheinungsformen in Frage stellen: Nicht indem Lyotard Wissen darüber vermittelte, sondern indem er durch gezielte Strategien der Reizüberflutung und Überforderung den Besucher überwältigte und in einen Zustand der Beunruhigung versetzte. Er sollte erahnen, wohin die von Lyotard prognostizierte Entwicklung einer digitalisierten Welt verlaufen könnte: in Zustände zunehmender Entmaterialisierung, die auch das Alltagsleben deutlich verändern.

Mit dem heraufkommenden Informationszeitalter verschiebt sich das Verhältnis zum „Material“. Informationen beeinflussen substantiell Material und Objekte und deren Wahrnehmung. Sie sind untrennbar an die Nachrichten über sie gekoppelt. Auch unsere Denkprozesse werden mehr und mehr von datenverarbeitenden Maschinen übernommen. Insgesamt verschwimmen Grenzlinien zwischen Geist und Materie oder Subjekt und Objekt, die neuzeitliches Denken prägten, bis zur Auflösung. Solche Auswirkungen der Digitalisierung bestätigen Lyotard in seinem philosophischen Ansatz: Die Voraussetzung eines allgemeingültigen Verhältnisses zwischen erkennendem Subjekt und einem entgegenstehenden Objekt, über das technisch und wissenschaftlich verfügt wird, ist nur eine von vielen möglichen „Erzählungen“. Sie enthält einen unzulässigen Machtanspruch. Die solches voraussetzenden Institutionen und Wissenschaften können keine legitimen, universellen Begründungen liefern. Auch andere, heterogenere Formen von Vernunft und Erkenntnis sind zulässig und können nicht von einer übergeordneten, diskursiven Ebene aus diskreditiert werden. Die Unmöglichkeit eines prinzipiellen Konsenses führt zu der Erkenntnis, dass Nichtübereinstimmungen, Widersprüche und Regionen des Unbekannten zu akzeptieren sind.

Lyotard als Philosoph versucht mit den Mitteln einer Ausstellung seine verunsichernden Prognosen direkt erlebbar zu machen, die „Immaterialien“ nicht nur als Konzept, sondern auch gestalterisch zur Geltung zu bringen. Das Erleben von Kunst und Kunstwerken steht dabei modellhaft für die erstrebte Wirkung, eine vorwärtstreibende Neugier hervorzurufen. Das Projekt zeigt auch, Ausstellungen stellen nicht nur Materialien und Inhalte vor, sie prägen ebenfalls Verhalten und Urteilsfindung. Auch das Medium „Ausstellung“ ist weder von ihren Objekten zu entkoppeln noch von ihren „Immaterialitäten“.



So baut sich vor dem geistigen Auge das Bild eines überbordenden, prallen und schillernden Ausstellungszenarios mit weitreichenden zivilisatorischen Fragestellungen auf. Der Blick zurück in den Kunstverein lässt es wieder implodieren. Die reduzierte Präsentation entzieht den Vorstellungen die Imagination. Es geht hier eben nicht darum, sie am Leben zu halten und eine Ausstellungsform wieder aufleben zu lassen, die vor dreißig Jahren bewusst die tradierten Formen von Kunstpräsentation durchbrach. Laut H. J. Hafner (Leiter des Kunstvereins) wäre es ein vergebliches Unterfangen. Weder lässt sich der damalige Blick aus der Betrachterperspektive rekonstruieren, noch ist bis heute viel von der Ausstellung anschaulich geblieben. Zu „Les Immatériaux“ lässt sich nur wenig Nachwirkendes aufweisen. Es fanden kaum kunstgeschichtliche oder philosophische Diskurse zum Thema statt. So versucht das Kuratorenteam mit sparsamen Mitteln ohne Gesten des Beeindruckens Einblick in ihr Interesse an dem vergangenen Ereignis zu geben und uns an ihrer Recherchearbeit teilhaben zu lassen. Die damalige Ausstellung war ein Unikum und stellte nicht die Vermittlung, sondern die medialen Aspekte des Ausstellens und ihr Erleben in den Vordergrund. Diese Faktoren und der Prozess des Zustandekommens der Ausstellung werden aufgearbeitet. Laut Hafner ist dieser Versuch im Kunstverein damit ein Sonderfall, keine Kunstaustellung in der vorrangig Kunstobjekte gezeigt werden. Das Ausstellen selber und die damit verbundenen Implikationen rücken in den Fokus. Der Status der gezeigten Objekte soll offen bleiben. Arbeiten, wie die von Anselmo oder Morellet, stammen aus dem Kontext der dokumentierten Ausstellung. Beide Künstler haben sich schon damals mit neuen Materialien und Medien sowie Vorgängen des Entmaterialisierens beschäftigt. Beiträge von C. Dullaart oder A. Lay beispielsweise sind aktuell und beziehen sich auf das Bewahren oder Verschwinden flüchtiger Abläufe des Abbildens und der Bilderstellung. Gleichrangig aufbereitet, gerahmt aufgehängt oder akkurat auf der langen Tischreihe ausgelegt, finden sich Unterlagen, die den Werdegang von „Les Immatériaux“ belegen. Es sind funktionale Dokumente zur Planung der Ausstellung und ihrer Organisation. Der Status all dieser Objekte und Materialien, ob Kunstobjekt oder Dokument, wird aber gleichsam unter der Hülle der Präsentation dennoch mutwillig vereinheitlicht. Die Inszenierung des Raumes und im Raum schiebt sich zwischen Objekte und Betrachter. Das Auratische kommt auf unerwartete Art und Weise zurück. So entsteht nicht der unmittelbare Einblick in einen kuratorischen Werkstattbericht, sondern die Inszenierung eines solchen als Ausstellung.

Mit dem kühlen Ausstellungsdispositiv gelingt es dennoch, die Diskrepanzen, die der Prozess des Erinnerns und Aufbereitens mit sich bringt, deutlich werden zu lassen: nicht nur die naheliegende zwischen denen, die sich professionell und lange mit dem Thema beschäftigen, und den Besuchern, die eher unvorbereitet konfrontiert werden. Als Betrachter bewegt man sich ständig auf mehreren ineinander verschachtelten Bühnen: Man beobachtet sich bei der eigenen Recherche, indem man sich mit der der Kuratoren beschäftigt. Man bewegt sich in einer Kunstaustellung, die vorgibt, keine zu sein, aber dennoch die typischen Mittel einer solchen benutzt. Man ist in einer Ausstellung, die unter völlig anderen Vorzeichen an eine längst vergangene erinnert. Viele der Gegenstände im realen Ausstellungsraum werden als „autonome“ Kunstobjekte verstanden und scheinen dennoch im Kontext permanent auf etwas anderes zu verweisen. Die Aufzählung ließe sich sicher fortsetzen, bliebe aber bald in einer endlosen Schleife der Reflektion stecken. Inwieweit das nicht ohnehin passiert und die Ausstellung immer wieder unanschaulich werden lässt, muss jeder Besucher im Selbstversuch testen.

Ausstellung: Zum Beispiel „Les Immatériaux“
Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf
05.04.2014 bis 10.08.2014
Kuratoren: Hans-Jürgen Hafner, Christian Kobald