03. Jul 2017

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- Ausstellungsseite: Skulptur Projekte Münster

- Ausstellungsseite: Skulptur Projekte Marl

Skulptur Projekte 2017 in Münster
Ein Beitrag von Lothar Frangenberg

Natürlich sind die alle zehn Jahre stattfindenden Skulptur Projekte populär, ja beliebt geworden. Natürlich nimmt man spätestens seit der Vorgängerveranstaltung 2007 an einem Kunstevent teil – ein heute unvermeidlicher Vorgang! Das Stadtmarketing funktioniert, die Touristen kommen. Das provokative Konfrontieren mit Kunstobjekten im Stadtraum ist passé. Es wird schwierig, auf dem Parcours mit den vielen anderen der Rolle des Touristen und Voyeurs mit seinem neugierigen, alles goutierenden Blick zu entkommen.

Da helfen die während der Vorbereitungen der Ausstellung entstandenen Skripte weiter. Unter den Titeln „Out of Body“, „Out of Space“ und „Out of Time“ geben sie Aufschluss über Gedanken und Diskussionen zum kuratorischen Konzept. Schon die Titel weisen nicht nur auf ein verändertes Verständnis des Skulpturalen und der (öffentlichen) Räume hin, in denen sie wirken, sondern auch auf die Notwendigkeit, sich in eigener Bewegung den gängigen Auffassungen über Skulpturen zu entziehen. Eine Bewegung heraus aus den fixierten Vorstellungsmustern von festen, klar umgrenzten Körpern, die sich eindeutig mit besonderen Eigenschaften vom Umfeld abheben. Das Verständnis über das Körperhafte entgrenzt sich. Der Begriff wird unschärfer und durchlässig. Die künstlerischen Ideen, die unter den Begriff „Skulptur“ fallen, materialisieren sich in und über die unterschiedlichsten Medien bis hin zur Immaterialität. Die Gattung selber ist nicht mehr relevant. Skulptur weitet sich ins Performative, Theatralische, Filmische und Digitalisierte aus. Als skulpturale und bewegliche „Körper“ werden Menschen und Tiere als Akteure einbezogen. Mit der Auflösung medialer Grenzen lassen sich all diese Körper, sei es technisch oder mental, bis ins Virtuelle ausdehnen. So wird die Beziehung des Betrachters zur künstlerischen Arbeit auf vielschichtige Art und Weise komplex aufgeladen. Und durch seine (aktive) Teilnahme werden manche Arbeiten erst ein Ganzes.

Nicht dass diese Entwicklung neu ist; sie ist den Kunstinteressierten geläufig. Hier wird sie, auch in teils eingängiger Form, einem breiten Publikum an den unterschiedlichsten Orten der Stadt vor Augen geführt. Man muss sich dazu auf den Weg auch in jene Bereiche bis hin zur Peripherie machen, die der Tourist gerne umgeht oder übersieht. Es gilt die „museale“ Kernzone um Altstadt und Dom zu verlassen, ohne die dortigen Interventionen zu vernachlässigen. Gerade das LWL-Museum und sein Umfeld sehen sich mehreren Eingriffen und Modifikationen ausgesetzt. Eine klaustrophobische Ängste auslösende Wohnung, nur von außen zugänglich, stülpt sich in das Gebäude (G. Schneider). Im Foyer wird über gedimmtes Oberlicht und einem Teppichboden eine gedämpfte Atmosphäre erzeugt, die den Raum weniger ätherisch, ihn körperhafter werden lässt (N. Schultz). Ein LKW vor der Tür, mit einer schwarzen Box beladen, scheint zum Abtransport der dort als Leihgabe stehenden Henry-Moore-Plastik bereit zu stehen – um nur einige der Eingriffe zu benennen (C. von Bonin/T. Burr - 1; M. Dean - 2). Sie stehen programmatisch dafür, den vertrauten Umgang des Besuchers mit der Institution zu unterlaufen und ihn für transformativere Erfahrungen empfänglich zu machen.

Die Reise zu den äußeren Satelliten führt zu einem ehemaligen Asialaden voller glitzernder Billigware. In seinen Tiefen zeigt eine Videoinstallation den Austausch von Waren und Menschen über ein geheimnisvolles Tunnelsystem (M. Rottenberg - 3). Ein Tattoostudio stellt Motive der beteiligten Künstler bereit, mit denen der Besucher seine Haut schmücken lassen kann – Rabatt für Ältere inclusive (M. Smith). Die großen Publikumsmagneten sind selbstverständlich die Arbeiten mit und am Wasser. An einem neu angelegten Brunnen in einer Grünanlage stehen und räkeln sich lässig übergroße, androgyne Figuren aus Bronze und Gips. Sie spielen mit der Anmutung des „Klassischen“, sind es aber nicht. Wasser sprudelt nicht nur aus einer Coladose, sondern auch aus den undichten Beinen der Gestalten. Es ist ein Nebeneinander von festen und instabilen Beschaffenheiten, denn das Wasser setzt den Körpern aus Gips zu. Sie werden sich allmählich auflösen (N. Eisenman - 4). Am Hafenbecken erwartet einen ein knapp unter der Wasseroberfläche liegender Steg. Durch das Wasser watend erreicht man das andere Ufer. Das Becken, normalerweise die beiden bebauten Seiten trennend, wird über den Steg als Verbindungslinie zur Übergangszone für die Aufführung der gemeinsamen Begehung: ein Spektakel im positiven Sinne mit einem stark touristischen Element. Die Nutzer sind gleichzeitig Akteure und Voyeure. Durch sie und ihre Aktivitäten wird die Arbeit erst komplettiert (A. Erkmen - 5 + 6). Lässt man diese Attraktion und das Getümmel am Hafenbecken hinter sich, gelangt man weiter südlich zu einer Brache, einem „Unort“ zwischen Dortmund-Ems-Kanal und Ausfallstraße. Auf ihr steht eine begehbare, runde Betonskulptur: Eine Röhre mit einer umlaufenden, gewendelten Treppe aus wenigen Stufen, die einen leicht über das Gelände erhebt. Sie bietet ein bisschen Aussicht an einer Stelle, wo es nicht viel zu sehen gibt. In der Röhre befindet sich eine Feuerstelle, die auch benutzt wird. Nur von wem? Auf Besucher trifft man nur wenige. Sind es Nutzer der benachbarten Skateranlage oder unbekannte, nächtliche Gäste? Man kann es ihnen jedenfalls gleichtun und mit Hilfe der herumliegenden Holzkohlestückchen seine Tags auf den Betonwänden hinterlassen. Der Künstler bezieht diese Veränderungen, die man sonst als Vandalismus verhindern möchte, in die Arbeit ein. Er setzt sie Belastungen aus, vor denen man Kunstwerke normalerweise schützt. Mit dieser Form partizipatorischer Teilhabe verschwimmt der Status der Arbeit zum Alltags- und Gebrauchsobjekt. Das Kunstpublikum ist nicht unbedingt der Hauptadressat. Das Auratische löst sich mit dem Rauch der Feuerstelle auf (O. Tuazon - 7 + 8).

An einem anderen Ende der Stadt trifft man auf eine der komplexesten Arbeiten der Ausstellung (P. Huyghe - 9 + 10). Sie befindet sich in der abrissreifen, von einem „Burger King“ flankierten Eissporthalle. Der Betonboden wurde nach dem Muster eines antiken Puzzles auf der Grundlage eines zerlegbaren Quadrates aufgesägt und in Teilen entfernt. Weitere gezackte Betonplatten liegen herum oder sind in die aufgegrabenen Gruben gerutscht. Die Assoziation an Eisschollen liegt nahe. Die entstandene, kraterartige Landschaft gibt den Blick in die Tiefenschichten unter dem Hallenboden frei. Von der Architektur der Halle, die bald Historie sein wird, geht es in wenigen Metern über Lehmschichten bis zu Sanden aus der Eiszeit. Erdgeschichte wird anschaulich. Die Landschaft ist von einer expliziten Unmaßstäblichkeit, sie wirkt zugleich künstlich und urwüchsig, groß und verkleinert. Der Künstler simuliert eine Welt ohne oder nach dem Menschen. Gefühle des Erhabenen stellen sich – auf hier unerwartete Art – ein. Huyghe lässt aber andere Lebensformen agieren. In Lehmkegeln wohnen Bienenvölker, in einem Aquarium haust neben anderem Getier eine Wasserschnecke und in einem Inkubator teilen sich, für den Besucher unsichtbar, Krebszellen. Ihre Bewegungen, ihr Verhalten werden sensorisch erfasst und über den Austausch von Datenströmen verkoppelt, die wiederum Reaktionen auslösen. Der Besucher erlebt dies an Veränderungen der installierten, technischen Systeme. Das Aquarium verdunkelt sich und wird im Wechsel wieder transparent. Parallel öffnet und schließt sich eine der Luken im Hallendach. Alles andere bleibt dem Betrachter weitgehend entzogen. Im Aufeinandertreffen von natürlichen und technischen Systemen ergibt sich ein eigendynamisches Zusammenspiel von Zufällen und Notwendigkeiten, bei dem die Kontrolle durch den Menschen und seine Maßstäbe in den Hintergrund treten.

Fungieren Menschen bei Pierre Huyghe als inaktive Beobachter, von den Vorgängen selber ausgeschlossen, wird die Arbeit von Alexandra Pirici (11) geradewegs mit menschlichen Körpern als lebendigen Skulpturen in Aktion inszeniert. Wir sind zurückgekehrt ins Zentrum von Münster, in den „Friedenssal“, den geschichtsträchtigsten Ort der Stadt: Hier wurde neben Osnabrück der Westfälische Friede 1648 zur Beendigung des Dreißigjährigen Krieges geschlossen. In dieser Kulisse werden Akteure und Besucher auf Augenhöhe zusammengeführt. Die Akteure bewegen sich einzeln und als Gruppe sprechend und singend auch zwischen den Betrachtern und durch die Räumlichkeiten. Sie rufen dabei gesellschaftliche und politische Geschehnisse in diesem historisch enorm aufgeladenen Umfeld räumlich und zeitlich in Erinnerung. Unter der Vorgabe von Begriffen aus dem Publikum fungieren sie auch gemeinsam als nicht digitale, menschliche Suchmaschine: die Darstellung der Ausweitung ihrer Körper in einen virtuellen Raum. Sie scheinen sich in einem permanent wechselnden Subjekt-Objekt-Modus zu befinden: in einer Bewegung, die über die sich auftuenden, großen Gedanken- und Erinnerungsräume immer wieder zurück zur konkreten Präsenz der Akteure vor Ort und ihren Bewegungen zum und mit dem Publikum führt.

Nicht nur die Vorstellungen von Skulptur und ihrer Umsetzung haben sich entgrenzt, es geht konzeptionell ebenso um die Veränderungen des öffentlichen Raums. Er schrumpft, die Frage nach seiner endgültigen Auflösung stellt sich. Es setzen ihm nicht nur vor Ort private Interessen, Kommerz und Dauerüberwachung zu, auch die permanent erweiterten „Räume“ sozialer Kontakte im Netz oder die digitalen Konsum- und Spielewelten lassen seine Bedeutung und seine Territorien schwinden. Die weltweiten Kanäle dieser Netze sind immer geöffnet, immer gegenwärtig. Eine Rückbindung an einen realen Ort zu einer bestimmten Zeit ist nicht notwendig. Der öffentliche Raum verliert seine Bedeutung als spezifische Präsentationsbühne für Künstler, die mit ihren Arbeiten ohnehin längst im Virtuellen zu Hause sind.

Inwieweit sich solche Tendenzen in Münster schärfer ablesen lassen, bleibt zu fragen. Münster als reizvolle, urbane Bühne puffert in seiner wohlgeordneten, noch lebendigen Kleinteiligkeit diese Phänomene, die nicht nur örtlich, sondern global zugespitzt aufeinander treffen, eher ab. Auch wenn der Genius Loci seine prägende Kraft einbüßt und die Orte austauschbarer werden, so scheint er doch bei vielen der gezeigten Werke noch eine Rolle zu spielen. Die „kleine“ Stadt als abgegrenzte Plattform bildet einen Konzentrationsraum, in dem die Eingriffe auch ortsspezifisch wirksam werden. Das nomadisierende Element künstlerischer Arbeiten, sich unabhängig von Orten und ihren Qualitäten zu behaupten, tritt nicht durchgängig nach vorne.

Wem es in Münster zu gemütlich wird, kann es mit dem Gegenmodell „Marl“ versuchen – einer Industriestadt mit einem künstlich angelegten Nachkriegszentrum. „The Hot Wire“, so der Titel der Kooperation mit dem dortigen Skulpturenmuseum Glaskasten, setzt Städte und Skulpturen in Bezug zueinander. Das Marler Zentrum (12) ist seit vielen Jahren mit einer hohen Anzahl von Kunstwerken ausgestattet, deren Potentiale man in diesem Rahmen vor Augen führen möchte. Es bleibt aber hauptsächlich bei einem retrospektiven Blick auf eine gescheiterte Vision der Vergangenheit. Es geht ums Durchhalten, nicht um einen Blick nach vorne. Die Hoffnungen auf ein Gemeinwesen, das demokratischen und sozialen Idealen verpflichtet ist, haben sich mit den damaligen Planungen und Bauten nach außen nicht lebendig umsetzen lassen. Die Hoffnungen ruhten zu sehr darauf, dass sich mit der Lösung und Anwendung des damals ingenieur- und bautechnisch Möglichen und der funktionalen Zonierung der Lebensräume auch die sozialen Missstände verbessern ließen. Heute wirkt die Situation unbehaglich und schwer in die Jahre gekommen. Diese im Vergleich zu Münster erstarrt wirkende Stadtmitte scheint den Skulpturen auch ihre Lebendigkeit zu entziehen. Sie stehen oft wie verwaist im entleerten Raum.

Das Ortsspezifische übt immer noch einen spürbaren Einfluss auf die Erfahrung mit Kunstwerken im öffentlichen Raum aus. Die Exponate vagabundieren nicht unabhängig vom Ort umher. Aber das nur auf ein Zwiegespräch reduzierte Verhältnis zwischen Betrachtersubjekt und abgegrenztem Kunstobjekt gibt es nicht mehr. Die privaten und öffentlichen Diskurse erweitern sich mit den fließenden Grenzen der Kunstwerke und beziehen verschiedenste wirtschaftliche, politische, und andere kulturelle Phänomene mit ein. Alles, Alltags- oder Hochkultur, kann heute über vielfältige Kanäle verbreitet werden, um anderswo, auch als Kunst bzw. „skulpturaler Körper“, wieder aufzutauchen und Relevanz zu gewinnen. Die Skulptur Projekte sind alle zehn Jahre der Probelauf in einem noch fassbaren Rahmen für solche, jeweils aktuellen Fragestellungen. Inwieweit die prognostizierte Entwicklung greift, das heißt der reale Ort für Künstler und Werk anonymer und damit bedeutungsloser wird, bleibt spannend. Wäre es nicht schade, wenn sich Münster als konkrete, aber nicht mehr zeitgemäße Bühne verflüchtigen würde?