Ein Beitrag zur documenta 13
von Lothar Frangenberg

„Worum geht es bei dem Experiment?, sagte Rosa. Bei welchem Experiment?, sagte Amalfitano. Bei dem Buch auf der Leine, sagte Rosa. Das ist kein Experiment im eigentlichen Sinne, sagte Amalfitano. Warum hängt es da?, sagte Rosa. Ist mir plötzlich eingefallen, sagte Amalfitano, die Idee stammt von Duchamp, ein Geometriebuch dem Wetter auszusetzen, um zu sehen, ob es ein bisschen was vom Ernst des Lebens lernt.“ Aus: Roberto Bolaño: 2666, Fischer, Frankfurt a. Main 2011, S. 262

Wenn man parallel zum Besuch der Documenta 13 den in diversen Stellungnahmen von C. Christov-Bakargiev (CCB) gelegten Spuren folgt, verdichtet sich ein konzeptionelles Bild des intendierten Gefüges der Präsentationen. Dezentralisierte Plattformen des Erfahrens, Denkens und Handelns sind in einer Kunstausstellung als örtliche und geistige Refugien situiert. Mit ihrer Hilfe könnten wir von der diagnostizierten Allgegenwart eines globalisierten Anpassungsdrucks Abstand gewinnen. Die Diagnose ist nicht neu, aber zutreffend. Die dahinter stehende Sorge hebt auf eine globalisierte Welt ab, die uns in eine durch unaufhörlichen Wechsel vorwärtsgetriebene und dennoch uniformer werdende Masse zu verwandeln droht. Alternativen gingen mit schwindender Vielfalt verloren. CCB bietet im Rahmen dieses für sie zentralen Themas kein stringentes Konzept an, sondern implementiert in den Kasseler Alltag, oder beispielsweise in Kabul, Orte des Dazwischens, des Transformativen und des Widersprüchlichen, dystopische Orte, aber auch Orte der Therapie: Orte katalytischer Prozesse, die uns des ausgreifenden Anthropozentrismus, der zunehmenden Umformung der Welt durch Menschen, innerhalb einer Kunstaustellung bewusst werden lassen sollen. Sie beschränkt sich nicht nur auf Kunstobjekte und Künstlerstrategien, sondern bezieht verschiedene Lebens- und Handlungspraktiken mit ein, geht weit über den eigentlichen Kunstbereich hinaus. Dabei steht sie dazu, keine neue kuratorische Grundidee im Umgang mit Kunstgegenständen in White Cubes vorzuführen. Konsequenterweise steht die Frage, ob es sich bei den gezeigten Dingen um Kunst handelt, nicht im Vordergrund.

Sie versteht ihre Documenta trotz aller Verständigung darüber als ein verzerrtes Zusammenspiel voller Disharmonien, in dem gerade die Künstler mit ihrer Form der Recherche einen qualitativ entscheidenden Beitrag leisten, unseren Zugang zur Welt anders aufzuschließen. Diese soll nicht nur politisches Denken anregen, sondern helfen, das Verständnis von Wissenschaften zu verändern, und uns für andere Formen von Wissen, die weniger logozentrisch angelegt sind, empfänglicher zu machen. Den versammelten Aktionen, Installationen und Kunstwerken traut sie zu, als oszillierende Dinge mit unscharfen Grenzen uns Besuchern eine Perspektive fließender Übergänge zu eröffnen, die nicht nur den gesellschaftlich-politischen Kontext einbezieht, sondern auch vor Ort zur größeren Authentizität der Erfahrung beiträgt. Gemäß dieser geöffneten Perspektive erfolgt die Ausweitung auf die Statusfrage der Rechte anderer Lebensformen als eine Art juristischer Dimension – auf ihre Teilhabe und ihr Überleben unabhängig von ihrer gerade verfügbaren Nützlichkeit. Mit einem von manchen Kritikern diagnostizierten Hang zu Esoterik oder Animismus hat das eher wenig zu tun.

So einleuchtend und wünschenswert diese Ausweitung auf den ersten Blick sein mag, so birgt diese von CCB als eine widersprüchliche annoncierte Vorgehensweise Gefahren, die vor Ort zu Tage treten. Auf der einen Seite traut CCB den „Kunstobjekten“ in ihrer Wirksamkeit enorm viel zu, auf der anderen Seite scheinen sie nicht hinreichend zu sein, um das anvisierte Spektrum der Ereignisse und Erfahrungen abzudecken. So entsteht eine hybride Test- und Laborsituation. Sie ist gut geeignet, um der Frage nachzugehen, wie viel es mit dem zunehmenden kuratorischen Reflex auf sich hat, jedes Kunstwerk per se als politisch und subversiv zu deklarieren. Schade ist dabei, dass die die Arbeiten kommentierenden textlichen Transkriptionen vielfach auf ein zu eindeutiges größeres Dahinter, z.B. politscher, historischer oder sozialer Bezüge verweisen, die die Arbeiten schrumpfen lassen. Sie bändigen sie perspektivisch in zu konkreten Relationen, führen sie auf bestimmte Bedeutungsebenen herab. Deutlich zeigt sich auch, dass die als Kunstwerke angelegten Objekte, die ohnehin für Auftritte in Kunstaustellungen angelegt sind, ihre Stärken – oft hier leider in einer erstaunlich konventionellen Präsentation – ausspielen können, während Beiträge aus anderen Lebens- und Wissensbereichen sich schwerer tun.

Das Dilemma liegt darin, diese abbilden zu wollen, sie aber andererseits gemäß den Abläufen einer Kunstaustellung und dem Besucherverhalten anpassen zu müssen, kommensurabel zu machen. Das lässt sich am Beispiel des Quantenphysikers Zeilinger zeigen. Hier erweist sich, dass der (Forscher)Alltag im Rahmen einer Ausstellung nicht ohne weiteres als ein authentischer vermittelt werden kann. Er wird auf ein der Ausstellung zugängliches Maß gestutzt und gerät zum „Ausstellungsstück“. Es bleibt nur ein schwacher Abglanz, nicht nur des eigentlichen Faszinosums, sondern auch der dahinterstehenden Grundlagen. Die auf Tischen den Besuchern von allen Seiten zugänglich präsentierten Geräte bleiben trotz der möglichen Gesprächsangebote eine ästhetisch konsumierbare Inszenierung mehrerer „Black Boxes“. Der spannende Alltag der Physiker findet parallel auf der Suche nach dem „Gottesteilchen“ an einer der größten bisher gebauten Maschine, dem Large Hadron Collider am CERN bei Genf, statt. Die Berichterstattung der seriöseren Medien erweist sich als aufschlussreicher und nachhaltiger als eine solche im Kleinen aufbereitete Demonstration für den thematisch überforderten Ausstellungsbesucher. Der äußerst komplexe, unmittelbarer Sinnlichkeit völlig unzugängliche und der menschlichen Vorstellungskraft weitgehend entzogene Sachverhalt, der nur mit dem Verständnis abstraktester Formeln und der grafischen Aufbereitung statistischer Auffälligkeiten interpretierbar erscheint, zeigt die Grenzen der Leistungsfähigkeit einer Kunstaustellung deutlich.

Aussagekräftig ist auch der Parcours durch Kassel insgesamt. Der im Krieg und in der Nachkriegszeit nachhaltig zerstörte und wiederaufgebaute Stadtraum wird in Auseinandersetzung mit den Ausstellungsbeiträgen gerade durch die Bespielung unterschiedlicher Einzelgebäude präzise erlebbar. Auch wenn es wenig Sinn macht, einzelne Arbeiten aus dem großen Chor der vielen unterschiedlichen Stimmen herauszuheben, sei der alte Hauptbahnhof, von CCB als ein dystopischer Ort beschrieben, ausdrücklich erwähnt. Gerade Susan Philipsz und William Kentridge bringen dort ihre Arbeit und den Ort überzeugend zum Sprechen. Lokalität und Arbeiten kommen zusammen, evozieren unser kollektives Bewusstsein. Das mag an Parallelen in der Art und Weise liegen, wie sie mit Spuren des Vergangenen, des Zurückgebliebenen, umgehen und sie in ihre Arbeiten einlagern. Gerade die fragmentierte Klanginstallation von Philipsz am Ende der Bahnsteige lässt den sich zum Landschaftsraum öffnenden Blick wie ein Erinnerungsbild verschwimmen. Diese Wahrnehmungs- und Erinnerungsspuren werden allerdings zu schnell durch die vielen anderen Arbeiten vor Ort überlagert. Im steten Ablaufen der Örtlichkeit gewinnt die Erfahrung des Vertrauten schnell die Überhand, man findet sich wieder als der „Ausstellungsbesucher“ vor. Und so geht es einem des Öfteren: Die Perspektive des Besuchers bleibt zu wenig berücksichtigt. Schon die erdrückende Fülle und Vielfalt machen es unmöglich, allen Spuren und Überlagerungen nachzugehen. Man gibt auf, weil unklar bleibt, ob es sich um ein tragendes und wesentliches Moment des Konzeptes handelt, alle Angebote zu erkunden und zu verarbeiten, oder ob das Konzept als ein offenes mit freier bis zufälliger Auswahl zu verstehen ist. Diese Unübersichtlichkeit lässt eine gewisse Unzufriedenheit aufkommen und unterläuft das eigentliche Ausstellungserlebnis.

Natürlich kann man das Heterogene aus unterschiedlichen Lebenszusammenhängen und Bedeutungskontexten als Chance verstehen. Man sollte das Konzept auch nicht als das einer „Wunderkammer“ abtun. So irrational und mystifizierend kommt diese Documenta nicht daher. Man vollzieht nach, dass es darum geht, empfänglicher für unterschiedliche Aggregatzustände der Erfahrung und des Wissens zu werden: am Ende ein durchaus rationalisierbarer Vorgang, schon deshalb, weil die Ebene des Politischen hier eine der zentralen ist. Nur bleibt die Rede vom Politischen in der Kunst eine unklare. Im Politischen kann man nur schlecht mit Kategorien des Widersprüchlichen und Zuständen des Dazwischen operieren, vom Künstlerischen kann man wohl kaum präzise normative Vorgaben erwarten, die vorab der Diskussion und Einigung bedürfen. Das Politische ist normalerweise der Raum konkreter Absprachen, Regularien und Handlungsvorgaben, der der Kunst nicht. Mit ihr werden beispielhaft kreative Potentiale des Möglichen, des Spielerischen, der offenen Situationen verfügbar gehalten. Darin mag der Sinn ihres Ausstellens liegen.

Versucht man diese Kategorisierungen als zu einengend permanent zu umgehen, eröffnet sich die Documenta als ein zu offenes, von virtuoser Intellektualität geprägtes Experimentierfeld der Kuratorin. Man kann sich nicht des Eindruck erwehren, der Ausstellungsmacherin bei ihrer weit verzweigten Reise zu den Stationen ihres Bildungsinteresses zu folgen: eines Interesses, das gleichzeitig zu einer „Bildungslast“ führt, die sie offenbar in der Hoffnung auf Authentizität, Sinnlichkeit und Welthaltigkeit der Beiträge abzuwerfen sucht. Eine fast aporetische Situation, dieses große Spektrum von Wissen und Erkenntnis erfahrbar zu machen und es parallel wieder in Frage zu stellen bzw. hinter sich zu lassen. Zu Ende gedacht stünde man der Welt und den Objekten in ihrer Unmittelbarkeit gegenüber, der Alltag wäre nicht mehr auflösbar und alles ausstellungswürdig. Das Maybe würde zur unvermeidlichen Konstante.

Es ist richtig und als Erkenntnis unvermeidlich, dass zeitgenössische Kunst nicht mehr prinzipiell nach gewohnt westlichen Deutungsmustern interpretiert werden kann. Es ergibt auch Sinn, die Ausstellung in Teilen an Orte des Konflikts und der großen Umbrüche (Kabul, Kairo) auszulagern, um größere Wahrhaftigkeit zu erreichen. So soll gelingen, das Verbrauchte einer Kunstaustellung aufzubrechen, wenn denn das Authentische und scheinbar Fremde in einer Ausstellung eben unter deren Bedingungen leidet. Nur sind diese Orte der Krisen und Veränderungen nur für wenige Insider erlebbar. Vielleicht ist Kassel zu klein, aber die Documenta für uns zu groß.

* documenta 13, vom 09. Jun 2012 bis 16. Sep 2012