Ein Beitrag von Maja Hoock

What happened to the Happening? Man verzeihe das naheliegende Wortspiel. Aber auffällig viele Kunststätten bringen zum Herbst große Schauen zu Fluxus und Aktionskunst heraus. Dabei geht es immer um die Vergangenheit, das Happening ist demnach 1960er. Vielleicht noch 1970er. Aber aktuelle Performer wollen ihr Publikum auch heute in Live-Aktionen einbinden, es erschüttern und bewegen. Und das Publikum sehnt sich in einer zunehmend geglätteten und technisierten Umgebung wieder nach Intensität durch Live-Erlebnisse. Was ist also aus dem Happening geworden?

Ordentlich sind sie aufgereiht. Unter einer kleinen Holzbank stehen mehrere Paar schwarzer Gummistiefel. In der Mitte des hellen Raumes befindet sich ein knietiefes Becken voller Erde, die Besucher der Ausstellung „Wolf Vostell – Das Theater ist auf der Straße“ steigen dort hinein und graben. „Es ist etwas anderes, wenn Sie ein Stück Land umgraben, um Ihrem Boss zu gefallen, oder ob Sie umgraben um des Umgrabens willen“, hört man Wolf Vostell in rheinischem Dialekt vom Tonband sagen. Als er 1974 seine Aktion „Graben“ in der Nähe von Bremen kommentiert hat, hat er noch nicht gewusst, dass man in seiner Heimatstadt Leverkusen später einmal im Museum Eintrittsgeld dafür entrichten soll. Das Erlebnis des intensiven Moments als Kern des Happenings ist nicht mehr einmalig. Die alte Frage nach der Ausstellbarkeit von Happenings tut sich auf, aber darum soll es an dieser Stelle nicht gehen. Denn nicht nur bei der musealen Wiederaufbereitung von Vostells Aktion im Museum Schloss Morsbroich fällt auf, dass man sich beim Thema Happening meist auf die Vergangenheit bezieht. Sie ist Teil einer auffälligen Häufung von Ausstellungen zum Happening der 1960er Jahre. Wirft man einen Blick auf das Herbstprogramm vieler bekannter Kunststätten, sind sie omnipräsent; dabei geht es immer um die großen Aktionen von früher. Ob „Nouveau Réalisme“ in Krems, Mary Bauermeister in Ludwigshafen, „Chronische Fluxitis“ in Bremen, „Starter“ in Istanbul oder all die anderen Happening-Ausstellungen der letzten Jahre: Sie zeigen Partituren, Relikte und Videos der Happenings von Dieter Roth, George Brecht, Daniel Spoerri, Robert Filiou und Allan Kaprow. Die Schauen sind also Dokumentationen, die die Erinnerung an die Künstler berechtigterweise erhalten - leider geben sie meist keinen Hinweis darauf, ob es so etwas wie Happenings überhaupt noch gibt und wo sie sich hin entwickelt haben.

Der Gedanke, das Happening sei ein 1960er Jahre Phänomen, kann vom Wegfall zweier wichtiger Aspekte herrühren: dem politischen Generationenkonflikt und dem Willen zur öffentlichen Empörung. In den 1960ern gab es eine breite politische Szene, die sich mit Kreativität auch durch provokante Happenings gegen das Establishment stellte. Manche dieser Veranstaltungen zogen Tausende an; das Heidelberger Happening-Festival Intermedia besuchten 1969 gut 5.000 Personen. Außerdem verlieh die regelmäßig einsetzende öffentliche Empörung diesen Happenings viel Gewicht. In der Nachkriegsgesellschaft fielen Künstlern solche Provokationen relativ leicht. Politisch gewagte Aussagen riefen den Zorn Konservativer hervor. Heute kann man damit nur noch schwer Aufruhr erzeugen. Derzeitig ist Verschwendung im Überfluss der Konsumgesellschaft, wie sie beispielsweise Vostell noch mit seiner Brotaktion thematisierte, fast kein Thema mehr. Und über so viele schockierte Reaktionen wie die 1969 filmisch dokumentierten Kommentare der Passanten zum Einzementieren von Vostells Auto („Das entspringt keinem normalen Geist“, „Grober Unfug ist zu zimperlich ausgedrückt“, „Eine Schande“), würden sich heutige Aktionskünstler wohl freuen. So stellt sich die Frage: Ist das Happening mit seinen großen Protagonisten und dem Zeitgeist der 1960er Jahre erledigt?

Renaissance der Happenings



„Das Happening kann doch gar nicht tot sein“, sagte einst Wolf Vostell. „Weil es mit dem Leben zusammenhängt.“ Tatsächlich existiert die Kunstform weiter, nur die Themen und Mittel der Künstler wurden in den letzten 40 Jahren andere: statt sich thematisch mit Atomkraft, Vietnamkrieg und Nazizeit zu befassen, kritisieren Situationskünstler heute Überwachungsstaat, Gentechnik, Gentrifizierung und Globalisierung. Auch ihnen geht es darum, in einer zunehmend geglätteten und gesäuberten Welt Kontrapunkte zu setzen. Parasites ist ein gutes Beispiel für solche Störversuche. Der Hamburger Kurator Tom Segler (Name von der Redaktion geändert) rief die Aktionsreihe 2009 ins Leben und inszeniert seitdem Aktionen mit verschiedenen Künstlern. Er findet Dokumentation und Aufbereitung in den Kunststätten zwar wichtig, will aber auch die aktuellen Situationskünstler genannt wissen: „Es ist schade, dass all die jungen Aktionen, die es heute ja auch zuhauf gibt, unbeachtet bleiben.“ Mit seiner Arbeit setzt Segler etwas gegen eine museale Verklärung von Aktionskunst. Die Liste der aktuellen Aktionen, auf die er mit seiner Internetseite rebelart.net aufmerksam macht, ist lang. Der Kunstjournalist beobachtet die Szene seit Jahren und hat sogar die Zunahme von künstlerischen Interventionen in Richtung Happening feststellen können: „Ich habe das Gefühl, dass ihre große Renaissance angebrochen ist. Auch weil es eine neue Sehnsucht nach dem echten Leben gibt. Man möchte dabei gewesen sein, statt nur passiv vor TV oder Internet zu sitzen.“ Vielleicht steht bei den heutigen Aktionen das gemeinsame intensive Erleben sogar noch mehr im Vordergrund, als in den politisch provokanten Happenings vor vierzig Jahren.

So stürmte das französische Künstler-Duo Encastrable vor einem Jahr einen Baumarkt in Hamburg, um live vor Ort Skulpturen aus Heimwerkerartikeln zu bauen. Diese Intervention im öffentlichen Raum fand vor hunderten Gästen statt, die ebenfalls kreativ wurden. Niemand war wirklich empört, sogar die Baumarktleitung gratulierte zur Aktion. Aber um das Gefühl, gemeinsam in diese durchstrukturierte Konsumwelt einzudringen und sie etwas durcheinanderzubringen, darum geht es. Auch bei der Parasites-Aktion des Künstlers The Wa war alles da, woraus ein gutes Happening gemacht ist: das mit dem Publikum erlebte Ereignis, das durch überzeichnete Kontraste ans Absurde grenzt. Vergangenen Winter inszenierte er eine Demonstration ohne erkennbares Anliegen auf einem der schicksten Plätze in Hamburg, hinterließ Schmutz und Plastikbierflaschen, um eine Stunde später Kanapees und Lachs in einem Obdachlosentreff servieren zu lassen. Was der Künstler anspricht ist hochaktuell: Stadtviertel, die immer teurer werden und Menschen, die sich dort die Miete nicht mehr leisten können. Die Arbeiten des Duos Kommissar Hjuler & Mama Baer sind ebenfalls ein Beispiel für aktuelle Formen des Happenings, beruhen aber auf einem anderen Ansatz: Die Performancekünstler inszenieren Ereignisse, bei denen es weniger um das künstlerisch reflektierte Thema Entfremdung wie bei Parasites geht, sondern um das intensive Miterleben. „Wir suchen uns oft Publikum, das nicht auf uns gefasst ist, wie bei Kunst-Ausstellungen“, so Hjuler. „Dort erreichen wir die stärksten Reaktionen - totale Ablehnung oder hemmungslose Begeisterung. Wer sich auf uns einlässt wird entlohnt mit unserer totalen Verausgabung.“ Hjuler & Mama Baer sind zwei der 52 Mitglieder von No!Art, einer Künstler-Gruppierung, die Boris Lurie 1959 in New York als Schnittstelle von künstlerischer Arbeit und gesellschaftlichem Engagement gründete. No!Art vertritt bekannte Namen der Happening-Szene wie Günter Brus, Wolf Vostell und Allan Kaprow. Hjuler & Mama Baer performen unter anderem in London, Amsterdam und Berlin ihr „Art-Musik-Theater“, bei dem sie etwa ein abgeschottetes Lager für Infizierte einer Epidemie inszenieren. Dabei kombinieren sie Tonaufnahmen mit Schreien, bearbeiten Instrumente und lassen Puppen anstelle menschlicher Akteure auftreten, um gezielt bestimmte Stimmungen auszulösen. Das ist Happening, bei dem die fast klassisch wirkenden Elemente Nacktheit, Anti-Ästhetik und Schock nicht antiquiert erscheinen, sondern dazu eingesetzt werden, um die Intensität des gemeinsamen Erlebnisses zu steigern.



Die genannten Künstler bilden nur einen kleinen Teil der Aktionskunst-Szene ab. Erwähnt seien Marina Abramovic, die kürzlich für über 700 Stunden auf einem Stuhl im MoMa verharrte und dabei tausenden Besuchern gegenübersaß, oder Michael Landy, der in London Anfang des Jahres zur Verschrottung hunderter Kunstwerke in einem riesigen „Kunst-Mülleimer“ aufforderte. Es gibt auch Bewegungen wie die Kommunikations-Guerilla, der Aktionskünstler wie die Yes Men angehören. Diese fälschten unter anderem die Internetseite der Welthandelsorganisation und bekamen so Einladungen großer Konzerne per E-Mail, gaben sich auf deren Treffen als Vertreter internationaler Firmen aus und persiflierten mit überzeichneten Forderungen deren rein wirtschaftlich orientierte Ziele. Oder die VJing-Bewegung, wo Künstler mit moderner Videotechnik live mit dem Publikum interagieren und mit allem, was Videos und Schnitttechnik hergeben, Erlebnisse auslösen. Oder die Flashmobs, bei denen über Internet-Communities zur Inszenierung von Theaterstücken vor öffentlichen Kameras aufgerufen wird, um auf die zunehmende Überwachung aufmerksam zu machen. Immer mehr Akteure inszenieren im Geiste der intellektuellen Situationistischen Internationalen aus den 1960er Jahren Ereignisse, bei denen man sich befreiter und vom strukturierten Alltag abgehoben fühlen kann.



Auch wenn man nicht alles als Happening gelten lässt, so findet man doch hunderte Beispiele aktueller Aktionen, die in diese Richtung weisen; die Ansätze sind dabei vielfältiger als früher und die Begriffe, unter denen sie auftreten, variieren. Denn tatsächlich ist das Wort Happening stark mit den Aktionen der 1960er Jahre verknüpft. „Jedes Jahrzehnt hat seine Modebegriffe. Mir ist es egal, ob etwas Happening, Performance oder Intervention heißt“, sagt Parasites-Gründer Segler, der meist den letztgenannten Begriff wählt. Die Essenz sei die gleiche: „Kunst zum alltäglichen Lebensinhalt machen, Partizipation und Provokation.“ Tatsächlich ist bei der sich wandelnden Kunstform eine mehr oder weniger konstante Essenz auszumachen. Den Rezipienten aus gewohnten Mustern auf eine erweiterte Betrachtungsebene zu heben, ist damals wie heute Kern des inszenierten Ereignisses.

Für das Intensive



Ein Weg, dies zu erreichen, ist das Auslösen starker Emotionen. Darauf setzt Hermann Nitsch. Seine Performances erfüllen seit 40 Jahren ein wichtiges Kriterium, um als Happenings bezeichnet zu werden: gemeinsam mit dem Publikum finden Grenzüberschreitungen statt. Das ritualisierte Ausweiden eines Schweines versetzt den Zuschauer in einen anderen geistigen Zustand als vor der gemeinsam zelebrierten Aktion. Die unmittelbare Konfrontation z.B. mit Blut und Nacktheit löst schockhaft das Erleben eigener animalischer Empfindungen im rauschhaft dionysischen Genuss am und im Szenario aus. Dabei laufen je nach Charakter der Teilnehmer unterschiedliche Erkenntnisprozesse ab. Ausschlaggebend ist dabei die Intensität der Situation. „Es geht immer um das sinnliche Empfinden“, sagt Nitsch und spricht dabei nicht unbedingt von Freude und Wollust. „Es ist eine Tatsache des sinnlichen Empfindens, dass es nahe an die Schmerzgrenze geht und diese Grenze auch erreichen kann. Denken Sie an die griechische Tragödie oder an die christlichen Passionen. Dieses Tragische ist das ergreifendste Moment dieser künstlerischen Äußerung.“ Damit gesteht Hermann Nitsch der Kunstform Happening eine große Wirkung zu. Wohl auch wegen dieser Wirkung glaubt der 72-jährige keineswegs daran, dass das Happening tot ist: „Man hat sich auch gefragt: ist der Impressionismus tot, ist der Expressionismus tot, ist die gegenständliche Kunst tot oder ist die abstrakte Kunst tot. Eine Richtung wird in den Kunstbetrieb integriert und es entsteht etwas anderes daraus.“


Das neue Medium



Seit dem Aufkommen der Happenings hat sich also einiges verändert. So nutzt auch Hermann Nitsch heute rege die Möglichkeiten, die das Internet bietet. Informationen und Filmmaterial können schnell und unabhängig von den großen Medien weltweit verbreitet und gleich diskutiert werden. Vostell träumte 1968 von technischen Möglichkeiten, die Menschen mit dem Weltgeschehen verbinden. Heute machen manche Aktionskünstler wie die Yes Men sogar Aktionen, die nur mit Hilfe des Internets funktionieren. Parasites-Gründer Segler führt über das Internet Künstler aus der ganzen Welt zusammen und sorgt dafür, dass bei Aktionen genug Gäste erscheinen. Da diese an der Grenze des Legalen liegen, wird erst kurz vorher Ort und Zeit bekannt gegeben.



Trotz der vielen Performer, die das Internet rege nutzen, ist es noch nicht einfach, deren Aktionen aufzuspüren. Es gibt zwar eine Fülle an Informationen, nur muss man wissen, wo man sie findet. Sucht man etwa nach „Performance in Düsseldorf“, einem einstigen Hot-Spot der Kunstrichtung, findet man alles zu wirtschaftlicher Leistung, und wie man diese steigern kann. Die Suche nach Happenings sieht ähnlich mager aus. „Man bekommt Information ohne Ende“, sagt Kommissar Hjuler. „Nur nicht immer die richtigen.“

Mehr als eine Epoche



Neben all den durch Zeitgeist, Technik und Gesellschaft bedingten Veränderungen gibt es auch Konstanten in der Aktionskunst: Die künstlerischen Mittel sind im Grunde gleich geblieben; ob Extrahierung einer Situation aus dem räumlichen und zeitlichen Umfeld, Intervention im öffentlichen Raum oder Irritation durch Zweckentfremdung und Überzeichnung. Es wäre unzureichend, die Kunstrichtung einer einzigen Epoche zuzuordnen. „Solche Cutting-off-Dates sind bei Kunsthistorikern üblich, um sie in Katalogen zu manifestieren und die Werke für die Kommerzialisierung im Wert zu steigern. Diese Begrenzungen wirken zerstörerisch auf die Künstler, die davon überzeugt werden sollen, dass ihre Produktion nicht länger in die ‚heutige Zeit’ gehört“, hat Boris Lurie dazu 2003 in einem Interview gesagt. Das Happening hat sich mehr zur Aktionskunst hin entwickelt, tritt unter anderen Namen, mit neuen Thematiken und weniger empörungswilligen Zaungästen auf. Dabei gibt es mehr Möglichkeiten und eine größere Vielfalt als jemals zuvor. Die Glätte der stark materialistisch orientierten Welt mit ihrer Reizübersättigung, Gentrifizierung und die überbordende Überwachung geben dem Happening einen anderen Impetus. Für viele junge Künstler und das Publikum ist diese Kunstform gerade deshalb besonders packend. Es bieten sich interessante Angriffsflächen, die geradezu nach Brüchen verlangen. Es gibt eine große Sehnsucht nach dem gemeinsamen Erlebnis, nach Intensität und nach Nischen im Alltag. Darum ist Happening nicht tot.