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Daniel Ben-Hurs neue Arbeiten stellen eine Erdung seines künstlerischen Schaffens dar – im übertragenen wie im wörtlichen Sinne. So beinhalten sie einerseits eine Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln, eine Erinnerung an den Vater, der, auf dem Boden sitzend, die Thora abschrieb. Andererseits kennzeichnet insbesondere die Aktion Nummer sechs ein Vorwärtsstreben, eine Weiterentwicklung seiner Arbeit und es ist hier ebenfalls ganz konkret der Boden, der den Schaffensprozess, wie auch die Werke prägt.

Mit seinem linken und mit seinem rechten Fuß zeichnet Daniel Ben-Hur mit verbundenen Augen Buchstaben auf das auf dem Boden ausgebreitete Papier, zu Beginn der Aktion noch im Sitzen von einem direkt auf das Blatt gestellten Stuhl aus. Für den Künstler ein nahe liegender Ausgangspunkt, denn Schreiben und Zeichnen sind eigentlich sitzend ausgeführte Tätigkeiten, insbesondere dann, wenn dies, wie hier, mit großer Konzentration geschieht. Im Laufe der Arbeit bemerkt er jedoch, dass das Sitzen ihm nur begrenzte Möglichkeiten bietet, raumgreifende Bewegungen verhindert und zudem größere physische Erschöpfung hervorruft. Als Konsequenz daraus arbeitet er stehend weiter. Diese Körperposition stellt eine neue Herausforderung dar, denn die Füße müssen gleichzeitig den Körper tragen, ihn in Balance halten und dabei den Zeichenstift führen. Vor Beginn des Zeichnens durchmisst Daniel Ben-Hur – bereits mit den an beiden Füßen befestigten Stiften – das Blatt mit Schritten. Wie Hände ein Blatt Papier zurecht rücken, bevor man anfängt, etwas darauf zu schreiben oder zu zeichnen, schreitet der Künstler hier sein Territorium ab, verschafft sich so mit den Füßen Orientierung auf dem Zeichengrund bevor er ihn bearbeitet.

Das Zeichnen mit den Füßen versteht Daniel Ben-Hur als natürliche, aber nicht vorhergesehene und nicht bewusst angestrebte Entwicklung in seinem kreativen Schaffen. Nachdem er bisher zunächst mit der rechten und linken Hand, dann mit Kopf, Mund, Ellbogen, Bauch und Knien den Zeichenstift geführt hat, erfolgte so durch das Vortasten von oben nach unten gleichsam eine Erdung des Prozesses, der damit aber nicht abgeschlossen ist, sondern weiteres Entwicklungspotential besitzt. Dies ist für Daniel Ben-Hur dem Gehen auf einem Weg vergleichbar, das für ihn wichtiger ist als das Ankommen an einem Ziel oder das Erreichen eines endgültigen Ergebnisses. Wenn er erzählt, er zeichne mit den Füßen, sind es sicher zunächst die fußgemalten Weihnachtskarten behinderter Künstler, an die man sich von dieser Vorstellung erinnert fühlt. Doch sowohl die Ästhetik seiner Werke als auch die künstlerische Herangehensweise sind ganz andere. Die Grußkartenmotive sind immer mit äußerster Präzision ausgeführt, bis ins kleinste Detail genau, und es ist deutlich, dass der Künstler versucht, mit der Arbeit seiner Füße die seiner Hände zu ersetzen. Daniel Ben-Hur will dagegen durch seine bewusste Entscheidung, mit den Füßen zu zeichnen, eben genau die anderen Möglichkeiten, welche die Füße gegenüber den Händen auszeichnen, herausfinden, ausloten und ihre Möglichkeiten für den künstlerischen Prozess erschließen. Er will die Andersartigkeit der Füße nicht unterdrücken, sondern etwas Positives für sich daraus gewinnen und nutzbar machen. Daniel Ben-Hur umschreibt seine Gründe für dieses Vorgehen, seine Motivation, mit einer Frage: „Was für eine Qualität kann ich durch diese Arbeitsweise erzeugen? Was kann ich Neues, Anderes dadurch erreichen?“

Als Hilfsmittel bedient er sich dabei des Zeichenstiftes – bei dieser Serie besteht er aus schwarzer und weißer Ölpastellkreide oder Graphit. Er befestigt ihn am Fuß, quasi als Fortsetzung seines Körpers. Anders als bei Rebecca Horn haben diese prothesenartigen „extensions“ keinen eigenen skulpturalen Charakter, sind sie hier Mittel zum Zweck und dienen Daniel Ben-Hur als Werkzeug. Dem Akt des Zeichnens wird während der jeweils 6 x 15 Minuten dauernden Abschnitte in all seinen Aspekten nachgespürt. Linker und rechter Fuß werden eingesetzt – wahlweise die ganze Sohle oder nur Ferse oder Ballen, der bloße oder mit Socken ausgestattete Fuß. Das Aufsetzen des Stifts auf das Papier erzeugt ein Geräusch, das sich im konzentrierten Rhythmus der Arbeit zum Stakkato verdichtet. Ein Klang, der wiederum Orientierung bietet und durch die Stimme des Künstlers unterstützt wird, welche die Buchstaben, während sie gezeichnet werden, artikuliert. Durch Wiederholung des immer gleichen Buchstabens, der immer gleichen, allenfalls in Varianten ausgeführten Bewegung, des immer gleichen Klangs, kann auch Langeweile entstehen, die ebenso zum Prozess gehört wie das rhythmische Weitermachen durch diese Langeweile hindurch. Wenn der Stift abbricht oder sich aus seiner aus Klebebändern provisorisch gebastelten Halterung löst, kann dies eine kurze Unterbrechung der Arbeit bedeuten, aber auch eine neue Dimension und neue Möglichkeiten eröffnen. Dabei spielt die Kontrolle, das Einhalten bestimmter Arbeitsweisen, immer weniger eine Rolle, immer stärker wird dem Bedürfnis nachgegeben, alle Möglichkeiten auszuprobieren, die sich bieten. So macht Daniel Ben-Hur weiter mit dem Stummel des abgebrochenen Stifts, den er über das Papier reibt, oder auch nur mit dem Fuß ohne den Stift und verreibt die bereits gezeichneten Linien mit den gleichen Bewegungen mit denen sie auf das Papier gebracht worden waren. Auf diese Weise wird auch Unvorhergesehenes zum wichtigen Element im künstlerischen Schaffensprozess und aus dem minimalen Einsatz an Mitteln und Werkzeugen ergibt sich ein großer kreativer Reichtum, den der Künstler voll ausschöpft.

Hierin kommt auch das performative Element von Daniel Ben-Hurs Vorgehensweise zum Tragen, das in einzelnen Elementen an den modernen Tanz erinnert. Die raumgreifenden Bewegungen, das Hüpfen und Stampfen folgen keiner vorher festgelegten Choreographie, sondern entwickeln sich in der Ausführung. Dabei entsteht durch die an den Füßen befestigten Zeichenstifte ein kleiner Abstand, welcher die natürliche Erdverbundenheit des Körpers wie winzige Stelzen unterbricht, so dass der Fuß bewusst aufgesetzt werden muss und eine Herausforderung für das Balancegefühl des Zeichners entsteht, der er mit fließenden Bewegungen entgegenwirkt. Die performative Dimension wird ebenfalls deutlich durch die Einteilung der Aktion in mehrere, jeweils 6 x 15 Minuten dauernde „Akte“, die wie bei einem Theater- oder Musikstück den Inhalt gliedern und strukturieren. Per Videokamera dokumentiert der Künstler den ganzen Prozess und so bleibt davon nicht nur das Resultat desselben, das Kunstwerk, sondern auch der Film, der im Nachhinein eine Verbindung zwischen Zeichnung und Aktion herstellt. Bemerkenswerterweise sind in diesem Video nur die Füße zu sehen, was den geerdeten Charakter der Arbeit besonders unterstreicht.

Der performative Akt und die Bewegungen, durch welche die Zeichnungen entstehen, hinterlassen umgekehrt auch Spuren im Werk selbst. Anders als beispielsweise bei Jackson Pollocks Action Painting, bei denen die am Boden liegenden Malgründe von allen Seiten bearbeitet wurden, entsteht bei Daniel Ben-Hur durch die immer wieder aufgenommene (und der Schreibrichtung entsprechenden) links einsetzenden und nach rechts führenden Bewegung auch eine deutlich erkennbare Richtung auf dem Blatt, die das Auge bei der Betrachtung leitet. Viele Linien führen über den rechten Rand des Blattes hinaus, da sie in schwungvoller Bewegung gezeichnet wurden, die nicht am Rand des Papiers Halt machte. Die Ästhetik die hieraus entsteht, kann wegen der verbundenen Augen nicht korrigiert werden. In ähnlicher, ebenfalls nicht beabsichtigter Weise entstanden bei einigen Blättern einzelne vertikale oder horizontale Linien. Während der Bearbeitung haben sich hier durch den kräftigen Druck der Füße auf das Blatt die Ritzen zwischen den Linoleumplatten des Fußbodenbelags in seinem Atelier durchgedrückt. Max Ernst hat diese künstlerische Technik, die Frottage, in den 1920er Jahren für den Surrealismus entdeckt. Für Daniel Ben-Hur ist sie ein weiteres Element seines künstlerischen Strebens nach der Balance zwischen äußerer Kontrolle und innerer Nichtkontrolle, und der Offenheit, für das, was während des Zeichnens passiert. Die Linie wird losgelöst von ihrer ursprünglichen Bedeutung zum Teil des Kunstwerks und der Untergrund bleibt somit im Werk präsent, auch wenn es nicht mehr auf dem Boden liegt, sondern schließlich an der Wand ausgestellt wird.

Wie in seinen früheren Werken spielt für Daniel Ben-Hur auch in dieser Aktion der Wechsel zwischen Rechts und Links eine große Rolle. Die Interaktion von rechter und linker Gehirnhälfte drückt sich im Wechselspiel von Intuition und Ratio, von Körper und Intellekt aus. In diesem Zusammenhang sind auch seine älteren Arbeiten von Interesse, die er auf der Grundlage seines eigenen EKG geschaffen hat. Der Ausdruck auf dünnem Druckerpapier zeigt die unregelmäßig zackige, dunkelgraue Computerlinie seiner Herzströme. Daniel Ben-Hur hat diese durch seinen eigenen Körper vorgegebene Linie durch seine gezeichnete Linie ergänzt und Buchstaben herausgearbeitet, ohne die ursprüngliche Linie zu zerstören. Die vorgegebene Linie stellte für ihn als Zeichner eine ähnliche Herausforderung dar wie für den Bildhauer Michelangelo ein Marmorblock, aus dem er die seiner Auffassung nach darin bereits angelegte Skulptur nur noch befreien musste. Gleichzeitig ist das wesentliche Element dieser Arbeit das Ausloten der Balance zwischen Körper (Herz) und Geist (Buchstabe).

Daniel Ben-Hur will dieses Wechselspiel und sein ästhetisches Potential weiterhin erproben im Streben nach einer Synthese zwischen dem Element des Körpers und dem Element des Gehirns. Auf dem Weg dorthin ist die Erdung des Prozesses, die Annäherung des Spirituellen an das Irdische durch das Zeichnen der Buchstaben mit den Füßen ein wichtiger Schritt. Dieser Gedanke verleiht dem bekannten Warnhinweis aus den frühen Jahren des öffentlichen Rundfunks eine völlig neue Bedeutung und Aktualität: „Vergessen Sie nicht, Ihre Antennen zu erden!“

Dr. Dagmar Korbacher, Kuratorin, Kupferstichkabinett Berlin

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Daniel Ben-Hur
Verbundene Augen, rechter und linker Fuß
Kurator: Dagmar Korbacher