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Dominik Sittig. Les Familles et les Plages

22 January - 6 March 2021

Auf den Gemälden der Ausstellung geraten für mich zwei Vergangenheiten – zwei Vorstellungen, zwei Klischees – ineinander und mischen sich: die Badeurlaube der 1970er Jahre, wie ich sie von Fotos und Filmen her kenne, und die Pleinairmalerei des 19. Jahrhunderts. Besonders die Bilder von Eugène Boudin und Claude Monet, die sie an den Stränden der Normandie gemalt haben, kommen mir immer wieder in den Sinn, als würden meine Gemälde von Geistererscheinungen heimgesucht. Auch wenn die Insel Sardinien natürlich kaum etwas mit der Küste am Ärmelkanal verbindet, und ich meine Motive auch nicht vor Ort aufgespürt habe, wie es die Impressionisten zu ihrer Zeit konnten.

Die kleinen gemalten Szenen, in denen die Badenden das Meer und die Sonne genießen, gehen auf einzelne stills, auf Standbilder zurück: Sekundenbruchteile, die aus alten, digitalisierten Super-8-Filmen herausgeschnitten sind. Mitte der 1970er Jahre hatten meine Großeltern, die Eltern meiner Mutter, wie viele andere auch, eine dieser Kameras für die Familie angeschafft. Die Filme wurden zu Geburtstagen und Festen gezeigt, oft einfach aus dem Moment heraus, am Abend, weil alle Lust darauf hatten. Dann wurden der Projektor und die Leinwand geholt. Dabei waren die Großeltern – und alle, die die Kamera sonst in die Hand bekamen – überhaupt keine fanatischen Filmer, weshalb Aufnahmen nur gelegentlich und meist ohne Plan gemacht wurden. Chronologie oder Vollständigkeit stellten für sie sowieso keine Maßstäbe dar: wichtiger war es, das Miteinander zu leben, anstatt die Situationen und Begebenheiten – für wen auch? – festzuhalten. Trotzdem hatten alle beim Filmeschauen ihren Spaß, und wie in einem Chorgesang aus dem Stegreif, dirigiert nur durch das Auftauchen der vertrauten Gesichter und Figuren vorn auf der Leinwand, wurden die Namen gerufen, einzeln oder zusammen, und es wurde gemeinsam gelacht und sich erinnert. Als Kind war das wie eine Feier der eigenen familialen Vorzeit, auch wenn viele der Filme aus einer Zeit stammten, zu der man selbst schon auf der Welt war; und obwohl das, was auf der Leinwand vor einem – ohne Ton, nur zum Geräusch des Apparats und der sich drehenden Spulen – ablief, im Grunde völlig banal war, ließ es in meiner Vorstellung vielleicht etwas von einem Bewusstsein entstehen, vom Leben der Erwachsenen um mich herum, einem Leben, von dem man selbst auch Teil war. Zusammen mit den kurzen, eingestreuten, oft komischen Erzählungen und den Anmerkungen für die, die nicht dabei gewesen waren, scheinen mir diese Filmvorführungen heute – bruchstückhaft, lückenhaft, vielstimmig und durcheinander wie sie waren (wie ich sie erinnere) – beinah ein Modell zu sein: für einen Zugang zur Geschichte, der einfühlend und persönlich ist, sich aber, gespiegelt in den Bereich der Kunst, nicht im Privaten und nicht in dieser einen Familie, in der man eben aufgewachsen ist, erschöpft.

Auf den Bildern von Boudin sind es noch die Angehörigen der Aristokratie und des Großbürgertums, die sich an den Stränden der Seebäder von Trouville und Deauville aus gesellschaftlichem Anlass treffen. Von ihnen aus lässt sich aber die Entwicklung nachvollziehen, die bis in die Gegenwart hinein und zum heutigen Massentourismus führt. Die eigentlich triviale und gleichzeitig doch schreckliche Verfügbarkeit der Orte, die das Internet heute bietet, lassen den Tourismus vergangener Epochen im Rückblick fast naiv und unschuldig erscheinen – was, wenn man sich die Zusammenhänge vergegenwärtigt, selbstverständlich nicht zutrifft. Aber vielleicht war das Reisen und das Urlaubmachen früher offener, riskanter, improvisierter und weniger konsumistisch. In den 1960er Jahren fuhren meine Großeltern mit ihren sieben Kindern und Freunden auch auf gut Glück nach Italien und suchten sich die Zeltplätze vor Ort. Oder sie fuhren einfach weiter, wenn der ausgesuchte gar nicht den knappen Angaben entsprach, die man dazu gelesen hatte. So gelangten sie – durch den Hinweis von anderen Campern, die wie sie unterwegs waren – 1969 das erste Mal nach Santa Maria di Castellabate, südlich von Neapel und Salerno. Später, in den 1970er Jahren waren sie über Pfingsten manchmal vorgefahren, nach Sardinien oder Korsika, aber auch in Richtung Norden, nach Norwegen, Finnland, zusammen mit einem Freund oder befreundeten Ehepaar, auf Erkundungstour, ohne sich auf die Reisebüros zu verlassen, um Zeltplätze oder Feriensiedlungen für den Sommerurlaub zu finden, die in den üblichen Katalogen nicht verzeichnet waren oder nur unzureichend beschrieben. Zu Beginn der großen Ferien machten sie sich dann mit allen gemeinsam auf den Weg: mit langjährigen Freunden und deren Familien, mit manchen ihrer Geschwister und deren Partnern und Kindern, und natürlich mit ihren eigenen Kindern und deren besten Freundinnen und Freunden (oder schon richtigen, also festen, die sie mitnehmen durften); aber auch mit Arbeitskolleginnen und -kollegen und natürlich deren Familien: in Kolonne zu sechs, sieben, acht, neun Autos, auf den Autobahnen, manchmal zwei, drei Tage lang. Die Rastplätze, Zwischenstationen, das Übernachten nördlich von Rom, die Hitze und das lange Warten aufs Fährschiff im Hafen: wie sie die Räder des kleinen Anhängers abschraubten, um ihn von hinten in den VW-Bus zu schieben; das Gepäck, das vorher auf die andern Autos verteilt werden musste; der Kran, der die Fahrzeuge dann vom Kai auf das Deck hob …

Beim Anschauen dieser alten, grobkörnigen, verwackelten und immer ein bisschen unscharfen Super-8-Filme spür ich es (wie etwas Körperliches, das verschwindet): dass es diese Form des Reisens und diese Art Urlaub in einer Zeit, in der – über Google oder Instagram – die Welt und ihre Bilder längst abrufbar sind, so nicht mehr gibt.

Dominik Sittig