press release only in german

08.10.2023 – 04.02.2024 ERÖFFNUNG: 07.10.2023, 18:00 – 21:00

JÜRGEN BALDIGA
WIE DIE HÖLLE, SO DIE ERDE. WO DIE HÖLLE, DA DIE ERDE.

Jürgen Baldiga (*1959 in Essen, †1993 in Berlin) war nicht nur Fotograf, ein Chronist seiner Zeit – der Westberliner Schwulen- und Tuntenszene während der AIDS-Krise in den 80er Jahren. Er war auch Dichter, Aktivist und „Koch / Barkeeper / Geliebter / Prostituierte /Gelegenheitsarbeiter“, wie er sich selbst beschrieb. Sein amateurhafter Griff zur Spiegelreflexkamera rührte weniger von der Ambition her, ein aufstrebender Fotokünstler zu werden, sondern war 1985, ein Jahr nach seiner HIV-Diagnose, seinem Entschluss geschuldet, acht Jahre lang das darzustellen, was bald nicht mehr sein würde. In Baldigas Worten: „Seit 1989 vollends im (Krankheits-) Bilde oder besser: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“

In der Halle für Kunst wird Jürgen Baldigas künstlerische, soziale und aktivistische Lebenspraxis in Zusammenarbeit mit dem Nachlassverwalter und Künstler Aron Neubert in einer retrospektiven Überblicksschau seines Werkes aufgearbeitet, das der Kurator Frank Wagner einmal als „radikal realistisch, ohne den Anspruch zu haben, authentisch zu sein“, beschrieb. Zum ersten Mal werden hier noch nie präsentierte skulpturale Arbeiten sowie Auszüge aus Baldigas insgesamt 40 Tagebüchern, die er von den späten 1970er Jahren bis zu seinem Tode führte, zusammen mit Schwarz-Weiß-Fotografien gezeigt. Die Fotografien in der Ausstellung zeichnen Baldigas Nischensoziotope nach – allen voran das der „SchwuZ-Tunten”. Sie stammen teils aus zwei mit rotem/blauem Plüschfell beklebten Mappen, in denen Baldiga seine Fotografien in billigen Plastikfolien zu dialektischen Paaren, ja, zu seiner Vision einer Familie, arrangierte.

Viele dieser Arbeiten Baldigas konservieren die brennende Lust am Leben, während sie zugleich den Verlust einer „Kultur der Möglichkeiten” dokumentierten – in einer Zeit der menschenunwürdigen AIDS-Politik, die sich gegen jene am Rande der Gesellschaft richtete: vor allem queere Menschen, Suchtkranke, Sex- und Gastarbeiter:innen oder Außenseiter:innen, die in der damaligen Bundesrepublik als Risiko für die „heterosexuelle Volksgesundheit“ wahrgenommen wurden. Man denke hier auch an Douglas Crimps „Liste“ von zurückgeforderten, verlorenen Räumen, Handlungen und Idealen einer queeren Lebenswelt, die während der AIDS-Krise mit dem Tribut des Todes einhergingen und als abjekt verächtlich gemacht wurden.

*

1. Dezember 2023, 20:00 Uhr
Screening Rettet das Feuer von Jasco Viefhues
im Filmclub der polnischen Versager*innen, Ackerstraße 168, 10115 Berlin

Am Welt-AIDS-Tag wird anlässlich des 30. Todestages des Künstlers im Filmclub der polnischen Versager*innen eine Filmvorführung von Jasco Viefhues Dokumentarfilm Rettet das Feuer (2019) in Anwesenheit des Regisseurs und Aron Neubert stattfinden.

Jasco Viefhues: Rettet das Feuer (2019), Farbe, digital, 81 min, Originalfassung auf deutsch mit englischen Untertitel

Berlin, 1993. Der Fotograf und Künstler Jürgen Baldiga kämpft gegen das HIV-Virus. In den neunziger Jahren erreicht die AIDS-Epidemie ihren Höhepunkt, auf den Niemand vorbereitet ist. Die infizierten Körper und ihre Geschichten verschwinden, als hätte es sie nie gegeben. Den Tod der Freunde und den eigenen vor Augen wird Baldiga zum Chronisten seiner Zeit. „Ich mache ein Foto. Ich fotografiere die Welt. Ich existiere.“ Ohne die Erinnerung verschwinden Identität und Geschichte. Bis zum letzten Tag arbeitet Jürgen Baldiga an der Dokumentation eines Exodus, der auch ihn erfasst. Der Dokumentarfilm Rettet das Feuer richtet den Blick auf ein Stück Westberliner Geschichte und die Stimmen des kollektiven Gedächtnisses.

Der Filmclub der polnischen Versager*innen wurde 2021 von Elisa R. Linn, Tiphanie Kim Mall und Flora Klein im Club der polnischen Versager e.V. gegründet. Sie zeigen dort an einzelnen Abenden ausgewählte Experimentalfilme und betreiben eine Bar. Der Club der polnischen Versager wurde in den 1990ern von in Berlin lebenden polnischen Künstler:innen gegründet und gehört neben dem Schokoladen zu einem der letzten aktivistischen Wohn-, Arbeits- und Kulturstätten in Berlin-Mitte.

Kuratiert von Elisa R. Linn in Zusammenarbeit mit Aron Neubert