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Der Innsbrucker Kunstpavillon zeigt in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Fellowship-Programm für visuelle Künste und Theorie im Künstlerhaus Büchsenhausen die Ausstellung LIBERATION // LIBÉRATION von Jochen Becker (Berlin).

LIBERATION // LIBÉRATION umschreibt die Befreiung von Tirol durch U.S.-amerikanische, französische und marokkanische Truppen wie auch die darauffolgende Konstruktion einer "Kulturnation" anhand von historischen und aktuellen Dokumenten, in Fotografien und Video-Exzerpten, mit Graffiti und Schriftblöcken. Hierbei wird die marokkanische Befreiung von Tirol unter anderem den Medienkampagnen gegen “Nordafrikaner im Rapoldipark” gegenübergestellt.

Als Montage stellt die Ausstellung u.a. historische wie künstlerische Bezüge her zu Spielfilmen wie Sembène Ousmanes Camp de Thiaroye (Camp der Verlorenen, 1988), Indigènes (Eingeborene, 2006) des algerischen Regisseurs Rachid Bouchareb, Roberto Rosselinis Episodenfilm Paisà (1946, Drehbuchmitarbeit Federico Fellini), Vittorio De Sicas La Ciociara (Zwei Frauen, 1960) oder Wolfgang Liebeneiners Kulturnation-Film 1. April 2000, welcher den Umbruch der Nach/Kriegszeit fiktional aufhebt.

Die Ausstellung LIBERATION // LIBÉRATION ist als Ergebnis des Fellowship-Aufenthalts von Jochen Becker im Künstlerhaus Büchsenhausen im SS 2007 entstanden. Sie bildet gleichzeitig den vierte Teil der Reihe From / To Europe. From / To Europe - Erkundungen über Europas koloniale Fundamente, trikontinentale Positionen, Transitmigrationsbewegungen und aktuelle post/koloniale Bedingungen in den Städten von Welt möchte als fortschreitendes Rechercheprojekt zwei zentrale Erkundungsfelder – die wechselseitigen Beziehungen zwischen Europa und den Kolonien seit 1884 sowie die aktuelle Situation der ‘Städte von Welt’ als durch Migration geprägte Metropolen – miteinander verschränkt sehen. Das Projekt erkundet post/koloniale Bedingungen nicht als Einbahnstraße von Nord nach Süd (imperialer Kolonialismus) oder Süd nach Nord (Migration), sondern als gegenseitige Einflussnahme sowie zwischen den europäischen und afrikanischen Ländern und Personen verschränktes Projekt. Die Erkundungen stützen sich dabei auch auf kulturelle, literarische, filmische und fotografische Quellen, deren historischen Gehalt und dem Eigensinn kultureller Produktion. Wie konstituierte sich Europa durch Kolonialismus und Migration? Wie gestalten sich die Entwicklungslinien und wechselseitigen Beziehungen bis in die Gegenwart? Und wie bildet sich ein künftiges postkoloniales Europa in den ‚Städten von Welt’?

LIBERATION // LIBÉRATION ist eine Koproduktion des Internationalen Fellowship-Programms für visuelle Künste und Theorie im Künstlerhaus Büchsenhausen mit dem Kunstpavillon.

JOCHEN BECKER arbeitet als Autor, Dozent und Kurator in Berlin. Er ist unter anderem Mitbegründer von Bürobert, Mitherausgeber von "Copyshop - Kunstpraxis und politische Öffentlichkeit" (Edition ID-Archiv, 1993), " geld.beat.synthetik - Abwerten bio/technologischer Annahmen " (Edition ID-Archiv, 1996), "Baustop.Randstadt,- #1" (Hg. NGBK, Berlin; 1999). Herausgeber von "bignes? - größe zählt, image/politik, städtisches handeln" (b_books 2001); gemeinsam mit Stephan Lanz von "Metropolen" (2001), sowie der metroZones-Buchreihe "Space / /Troubles" (2003), "Hier entsteht" (2004), "Self Service City: Istanbul" (2005), "City of COOP: Buenos Aires / Rio de Janeiro" (2004), Kabul/Teheran 1979ff" (2006) und "Architekturen auf Zeit" (2006). Als Kurator war er zuletzt für die Projektreihe "From / To Europe #1-3" in der Shedhalle Zürich (2006-2007) verantwortlich.

www.metroZones.info Dank an das Französische Kulturinstitut in Innsbruck für die Unterstützung.

Marokkaner in Tirol Österreich wurde wie Deutschland unter den vier alliierten Siegermächten aufgeteilt. Die jeweilige Hauptstadt – Wien bzw. Berlin – war ebenfalls über Jahre in vier Sektoren aufgespalten. Dass die französische Armee als Siegermacht einmal auch im vormaligen Gau Tirol-Vorarlberg sowie in Wien einmarschieren und das Land in die Nachkriegszeit überführen würde, war bis kurz vor Ende des Krieges keineswegs beschlossene Sache. Erst Ende 1944, dank der machtvolle Intervention von Charles de Gaulle „aus den Tiefen des französischen Kolonialreiches“ (so Klaus Eisterer, Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck), trat Frankreich in die „European Advisory Commission“ ein und war an die Seite der USA, von Großbritannien und der UdSSR Teil der allierten Militärverwaltung. Tirol erreichten die französischen Truppen spät und übernahmen den Sektor erst am 4. Juli 1945 von den rascher einmarschierten US-Truppen. Erster französicher Oberkommandant mit Sitz in Innsbruck war General Marie-Emile Béthouart, vormals Soldat in Marokko. (1)

(1) Nach ihm ist ein Holzsteg über den Inn benannt. Zwei Räume im Erdgeschoss der heutigen Landes-Galerie im Taxispalais dienten der französischen Besatzungsmacht schon 1945 als Dokumentationszentrum und Biblio¬thek. Noch 1951 wurde hier eine Indochina-Ausstellung gezeigt, mit dem sich Frankreich im Vietnam-Krieg kolonial verbunden wusste. Im Juli 1945 nahm die „Direction de l’Information“ genannte Propagandastelle in Innsbruck ihre Arbeit auf, wurde aber schon im November nach Wien verlegt. Die im August 1945 eingerichtete „Direction de l’Education et des Beaux Arts“ für Unterricht, intellektuellen Austausch und Entnazifizierung verblieb in Innsbruck. Das im Juli 1946 gegründete Französische Kulturinstitut Innsbruck zeugt bis heute von der französischen Präsenz im Nachkriegs-Tirol.

Das Nachkriegs-Österreich sollte vom Deutschen Reich losgelöst und die Achse Deutschland-Italien zerschlagen werden. Schon früh wurde das Land von französischer Seite als Opfer des Nationalsozialismus definiert: Die an der Grenze zur französischen Zone angebrachten Schilder „Ici l’Autriche Pays Ami“ (Hier Österreich Freundesland) sollte den einrückenden Truppen klarstellen, dass Österreich – im Unterschied zu Deutschland – als befreit und nicht als besiegt angesehen wurde. General de Gaulle bezeichnete Österreich gar als „Schlüssel Europas“ und meinte damit den Osten Europas, der jedoch in Folge des Kalten Krieges machtpolitisch der Sowjetunion zufiel.

Mehr als die Hälfte der 550.000 Männer, die 1944 in der französischen Armee kämpf¬ten, überquerten zuvor das Mittelmeer, um das „Vaterland“ zu verteidigen. Sie kamen aus dem Maghreb und dem subsaharisch-frankophonen Westafrika, um Europa vom Faschismus zu befreien. Wenig bekannt ist, dass ein Gros der 30.000 Mann starken französischen Armee in Österreich aus Kontingenten marokkanischer, von der Kolonialmacht rekrutierter Soldaten bestand. Die Besatzungstruppen wurde zunächst vor allem von der 4. Marokkanische Gebirgsdivision gestellt, welche am 29. April 1945 die Grenze zum Gau Tirol-Vorarlberg überschritt, gefolgt von der 2. Marokkanischen Infranteriedivision, die bis nach Landeck in Tirol weitermarschierte. Schon seit September 1945 wurden die marokkanischen Soldaten von der 27. Gebirgsdivision aus Grenoble abgelöst, welche sich aus Truppen des (weissen) französischen Widerstands zusammensetze. „Le blanchissement“ (Die Weisswerdung odrer Weisswaschung) hieß dies. (2) Mit den zunehmenden Kriegshandlungen an der Front in Indochina wurden die übrigen Truppen 1953 nahezu vollständig aus der französischen Zone abgezogen.

(2) Bevor de Gaulles Truppen im Herbst 1944 feierlich in das befreite Paris einziehen sollten, gab der Oberbefehlshaber den Befehl zum „Blanchissement“ der Streitkräfte. Als die Forces Françaises Libres in Paris unter dem Triumpfbogen durchmarschierten und sich als Befreier feiern ließen, warteten die Tirailleurs in Durchgangslagern in Mittelfrankreich auf den Rücktransport in ihre Heimatländer. Oder wurden in den nächsten Kriegseinsatz der imperialen Mächte hineingeworfen.

Rapoldi-Park Schlagzeilen wie “härteres Durchgreifen in der Marokkaner-Szene”, “Marokkaner: Ohne Personalien Schubhaft” oder “kriminelle Nordafrikaner-Szene in Innsbruck” prägen die aktuelle lokalpolitische Debatte der Landeshauptstadt Innsbruck. “Marokkaner” als “kriminelle Elemente der Rapoldiparkszene” stehen hierbei synonym für “Drogendealer”. Das lokale Stadtblatt zitiert Österreichs Innenminister Günther Platter mit den Worten: “Innsbruck muss für diese Leute ein möglichst unattraktiver Standort sein”. Tirols Landeshauptmann Herwig van Staa forderte gar Internierungslager für „kriminelle Asylbeweber“. Jeden Montag-Mittag lädt das städtische Jugendamt auf Couscous und Minztee ins Teehaus des Jugendzentrums Z6 ein. Mor Dieye steht den jungen nordafrikanischen Männern als Streetworker auch für Behördenangelegenheiten zur Verfügung. Selbst aus dem Senegal, hat er beim Studium in Kairo arabisch gelernt, ist mit einer Tirolerin verheiratet, praktiziert als Muslim und geniest das Vertrauen der Jungs. Seit wohl vier Jahren leben verstärkt Jugendliche aus dem Maghreb in Innsbruck. Sie besuchen regelmäßig Obdachloseneinrichtungen und sind oftmals in Gruppen organisiert, die sich schon aus der Zeit als Straßenkinder am Rande von Casablanca her kennen.

Einige Jungs haben Innsbrucker Freundinnen und inzwischen auch Kinder. Wie schon bei den „Besatzungskindern“ aus binationalen Beziehunen nach 1945 stößt dies auf große mediale Aufregung. Noch heute wollen viele Angehörige von den Liebschaften zwischen marokkanischen Vätern und österreichischen Frauen aus der Nachkriegszeit nicht öffentlich sprechen. Der 1962 in Marokko geborene Autor und Psychologe Hamid Lechhab, der Liebe wegen nach Vorarlberg gezogen, unternimmt seit kurzem mit einigen „Besatzungskindern“ Reisen in das Land der Väter. Der 8. Mai 1945 ist ein Tag der Befreiung Italiens, des Vorarlbergs und Tirols, erkämpft von Soldaten aus aller Welt, und zu einem großen Teil aus Marokko. Ihre Kinder können darauf stolz sein. Jochen Becker

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Liberation // Libération
Die Befreiung von Tirol - From/To Europe #4
Jochen Becker / metroZones