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Ein Kontakt-Versuch: Verstehst Du das?

Südosteuropa gilt als politischer Brennpunkt. Griechen in Albanien, Türken in Griechenland, Albaner im Kosovo: Der Balkan ist ein Gebiet am Rande Europas, in dem vielfältige Bevölkerungsgruppen um ihre kulturelle wie politische Identität ringen. Die künstlerischen Produktionen aus diesen Regionen reflektieren diese gesellschaftlichen Ambivalenzen. Will man sie verstehen, muss man die vielschichtigen ethnischen und religiösen Überlagerungen begreifen. Die allesamt westeuropäisch bzw. ‚westlich’ ausgebildeten KünstlerInnen beziehen ihre Motivation und Anregungen aus ihrem sozialen, kulturellen und politischen Umfeld. In ihrer künstlerischen Arbeit liefern sie uns aber mitunter kritische Protokolle von Übersetzungsprozessen, interpretieren Geschichtsprozesse und liefern persönlich gefärbte Einblicke in Epochen der Weltpolitik, die auch wir manchmal nicht wirklich verstehen. Die Themen sind zugleich lebensnah-individuell und politisch-exemplarisch: Schulalltag, Generationen- und Rollenkonflikte, Mutter-Tochter-Beziehungen, Liebe, Heimat, Selbstbestimmung und das Leben in einer Welt, in der man nicht wurzelt ist. „Verstehst Du das?“. Diese Frage ist auch ein Resonanz-Test, ein Kontakt-Versuch, eine Überprüfung der Haltbarkeit von Zugehörigkeit. Identität, wie abstrakt-global wir auch bereit sind, diese zu definieren, benötigt lokale Verankerung, wirkliche Präsenz und ein soziales Umfeld, das allein durch geglückte und gelebte Erfahrung fundiert sein kann. Sie kann durch nichts – auch nicht durch die „Flucht in mentale Räume“ - setzt werden. Dieser „Realismus der gelebten Erfahrung“ ist der Ausgangspunkt für das Ausstellungsprojekt und führt uns zum Kern dessen, was Heimat unter den Bedingungen des Anderswo sein kann: Das Gefühl, verstanden zu werden, in dem was man war, ist und sein könnte.

Versteh mich bitte: richtig!

Der Ausstellungstitel bezieht sich auf eine Video-Installation von Danica Dakić „Role-Taking, Role Making“ (2006), die mit der Frage „Verstehst Du mich?“ endet. Diese Fragestellung ist die Ausgangsfrage dieses auf Dialog angelegten Ausstellungsprojektes. In dem Video passieren „unglaubliche Dinge“, Bildsprachen und Orte verschränken sich, eine Roma-Theatergruppe in Köln gibt ihre letzte Vorstellung. Auch Laien aus dem Kosovo inszenieren merkwürdig schöne Metaphern. Man spricht Romanes. Das Spiel auf der Bühne und das Leben – wer soll das noch auseinander halten? Die Ausstellung „Verstehst Du das?“ Neue-Medien-Kunst aus Südosteuropa widmet sich ausschließlich Videoarbeiten, Installationen und Fotografien von Künstlern, die ihre Wurzeln in dieser Umbruchregion haben und gleichzeitig im westlichen Europa leben und arbeiten. Insbesondere die Arbeiten im Media-, Video- und Filmbereich bieten künstlerische Produktionsformen, die experimentelle Synthesen und eine gewisse Unabhängigkeit von der internationalen Kunstpraxis erlauben. Die künstlerischen Positionen bewegen sich zwischen dokumentarischer Informationsvermittlung, formal-ästhetischer Strategie und emotionaler Wiedergabe der individuellen Lebenssituation. Sie berühren uns, weil eigentlich sagen: „Versteh’ mich bitte: richtig!“.

Beteiligte Künstler: Maja Bajević, Paris-Sarajevo (AZKM) Danica Dakić, Düsseldorf-Sarajevo (AZKM, Kunstverein Arnsberg) Esra Ersen, London-Istanbul (AZKM) Peter Marifoglu, Düsseldorf (Kunstverein Arnsberg) Stefan Nikolaev, Sofia-Paris (AZKM) Milica Tomić, Belgrad-Berlin (AZKM)

Realismus der gelebten Erfahrung

Es ist aber auch die besondere Ästhetik und Rhetorik, die uns in der Auseinandersetzung mit der Kunst aus Südosteuropas – dem „Balkan“ berührt: Der „Realismus der gelebten Erfahrung“ (Kendell Geers, The Work of Art in the State of Exile, in: Milicia Tomic, National Pavilion, La Biennale di Venezi, Venice 2003), ist ein „ästhetischer Realismus“, der sich einer nachvollziehbaren, lebensnahen, vitalen und oft Energie geladenen Bildsprache bedient. Das Phänomen des „Realismus der gelebten Erfahrung“ und seiner künstlerischen Reflexion ist der inhaltliche Ausgangspunkt für das Ausstellungsprojekt, das zeitgleich im Kunstverein Arnsberg und der Ausstellungshalle zeitgenössische Kunst Münster eröffnet und gezeigt wird. Unterschiedliche künstlerische Positionen aus südosteuropäischen Regionen zeigen die inhaltliche Eigenständigkeit dieser jungen Kunstszene in der künstlerischen Auseinandersetzung mit unschiedlichen Themenstellungen der „kulturellen Identität“. Die Ausstellung widmet sich hauptsächlich Künstlerinnen und Künstlern, die aus der Erfahrung im Umgang mit den neuen Medien heraus, diese nur von Fall zu Fall in ihre Arbeit einbeziehen, ohne sich wie „Medien-Künstler“ darauf zu fixieren. Ihre Arbeitsweisen sind vielfältig und lassen sich nicht unter einem Begriff subsumieren. Ziel der Präsentation ist es, die unterschiedlichen Konzepte zu präsentieren, ohne sie auf einen gemeinsamen Nenner zu zwingen.

Die Übersetzung kultureller Identität

Die zeitgenössische Kunst aus Südosteuropa bewegt sich auf einem neuen Kurs. Große thematische Ausstellungen wie „In Search of Balkania", 2002 (Peter Weibel), „In den Schluchten des Balkan“, (2003, René Block) und „Blut & Honig - Zukunft ist am Balkan“ (2003, Harald Szeemann) haben unterschiedliche Aspekte der zeitgenössischen Bildenden Kunst aus süd-ost-europäischen Ländern gezeigt. Verschiedene Biennalen (Istanbul, Cetinje, Periferic), Kunstmuseen und Ausstellungshäuser haben in den vergangenen Jahren immer wieder interessante künstlerische Positionen aus der rasant sich entwickelnden Kunst- und Kulturszene der Regionen und Länder präsentiert, die für den Begriff „Balkan“ stehen. Süd-Ost-Europa kann seither weder länger als unbekanntes Territorium gelten, noch als blinder Fleck betrachtet werden. Eine differenzierte Betrachtung künstlerischer Phänomene und der Austausch auf gleicher Augenhöhe ohne den Filter westeuropäischer Vorurteile und Vorstellungen stehen jetzt als Herausforderungen an. Das Ausstellungsprojekt in der Ausstellungshalle zeitgenössische Kunst Münster und dem Kunstverein Arnsberg knüpft an Themen der „Übersetzung kultureller Identität“ und des „kommunikativen Gedächtnis“ (Harald Welzer) an. Die Ausstellung wird als Kooperation gemeinsam von Dr. Gail B. Kirkpatrick und Dr. Necmi Sönmez (Kunstverein Arnsberg) kuratiert.

Pressetext

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Verstehst Du das?
Neue-Medien-Kunst aus Südosteuropa
Ein internationales Ausstellungsprojekt in Arnsberg und Münster
Kuratoren: Gail B. Kirkpatrick, Necmi Sönmez

mit Maja Bajevic, Danica Dakic, Esra Ersen, Peter Marifoglu, Stefan Nikolaev, Milica Tomic

Stationen:
27.10.06 - 17.12.06 Ausstellungshalle zeitgenössische Kunst Münster
28.10.06 - 2006 Kunstverein Arnsberg