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Straying from the Line
13. April – 28. Juli 2019

Vito Acconci, Lynda Benglis, Dara Birnbaum, Jenna Bliss, Pauline Boudry / Renate Lorenz, Teresa Burga, Tom Burr, Claude Cahun, Ellen Cantor, Tony Cokes, Cosey Fanni Tutti, Anna Daučíková, Nicole Eisenman, Ellen Gallagher, Jef Geys, Guerilla Girls, Barbara Hammer, Eva Hesse, Irma Hünerfauth, Maria Lassnig, Leigh Ledare, Alice Lex-Nerlinger, Klara Lidén, Lee Lozano, Sarah Lucas, Ulrike Müller, Gabriele Münter, Anna Oppermann, Charlotte Posenenske, Tim Rollins and K.O.S., Aura Rosenberg, Betye Saar, Heji Shin, Marianna Simnett, Jack Smith, Nancy Spero, Diamond Stingily, Sturtevant, Martine Syms, Rosemarie Trockel, Anna Uddenberg, Raphaela Vogel, Constantina Zavitsanos & Park McArthur

Straying from the Line widmet sich einer grundlegend erweiterten Perspektive auf die Vielstimmigkeit feministischer Tendenzen in der Kunst der letzten 100 Jahre. Anstatt einer geradlinigen Narration feministischer Kunst als einem generations- und/oder identitätsspezifischen Stil, entwirft die Ausstellung ein offenes Netzwerk, das multiple Bezüge und Verbindungslinien zwischen ästhetisch und politisch, geographisch und historisch heterogenen Perspektiven greifbar werden lässt. Unterschiedliche Erzählungen und Bewegungen geben so feministischen Tendenzen Kontur, die weder Stil noch Label vereint. Vielmehr verbindet sie eine bestimmte Haltung gegenüber Kunst als einem Feld antagonistischer Beziehungen und hierarchischer Ordnungen, die das gesellschaftliche Leben als Ganzes bestimmen.

1969 zog Lee Lozano aus diesem Zusammenhang von künstlerischen und gesellschaftlichen Hierarchien die Schlussfolgerung, dass es „keine Revolution der Kunst unabhängig von einer Revolution der Wissenschaft, einer politischen Revolution, einer Erziehungsrevolution, einer Drogenrevolution, einer Sexrevolution oder einer persönlichen Revolution“ geben kann. Das Persönliche und das Politische wie Lozano als zwei Seiten der gleichen Medaille zu begreifen, war eine der zentralsten feministischen Forderungen der Zeit: sie artikulierte den gemeinsam Nenner unterschiedlicher, aktivistischer, theoretischer und künstlerischer Feminismen über politische und soziale Grenzen hinweg.

2019, genau 50 Jahre später, hat die Frage nach Innen und Außen, persönlicher Erfahrung und struktureller Gewalt nichts an Aktualität verloren. Seit dem Weinstein-Skandal und diverser anderer Fälle sexuellen Missbrauchs entlang des gesamten sozialen Spektrums steht sie wieder im Zentrum politischer Debatten und medialen Interesses. In der Politik, in den Medien, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Kunst und in unserem täglichen Leben müssen wir heute immer noch auf einem #metoo insistieren: darauf, dass Erfahrungen von sexistischer, rassistischer oder anderer Formen von Missbrauch und Gewalt kein persönliches, sondern ein politisches und strukturelles Problem sind.

Straying from the Line zeigt künstlerische Ansätze, die sich dem Politischen innerhalb des Persönlichen, dem Öffentlichen inmitten des Privaten und umgekehrt nähern und so das vermeintliche Außen der Kunst als ihr Inneres behaupten. Zum Beispiel, indem sie die sozialen Kodierungen künstlerischer Formen, Techniken oder Repräsentationsmodelle untersuchen, Begehren jenseits der Grenzen einer binären Geschlechtslogik einen Ausdruck geben oder die politischen Ökonomien der Zirkulation von Bildern problematisieren.

Martine Syms Videoarbeit Lesson LXXV (2017) widmet sich solchen Bildökonomien und der Art und Weise, wie Technologien der Bildproduktion und -zirkulation die Wahrnehmung von Geschlecht und Identität prägen. Die ikonische Aufnahme des milchbedeckten Gesichts einer schwarzen Frau in Syms Video bezieht sich dabei auf Bilder von Protesten gegen rassistische Polizeigewalt (z.B. im US-amerikanischen Ferguson), bei denen Milch zur Linderung von Tränengas eingesetzt wurde. Milch, als ein mit Gewalt und Widerstand kodiertes Motiv in Syms Arbeit, tritt in ein Spannungsverhältnis zu ihrer Besetzung als Weiblichkeits- und Reinheitsmythos in Raphaela Vogels Installation und Marianna Simnetts Kurzfilm The Udder (2014). Während in Vogels Installation riesige Michmaschinen-artige Skulpturen die Vorstellung eines nährenden weiblichen Körpers mit dessen Mechanisierung als Apparat kollidieren lassen, untersucht Marianna Simnett Milch als Motiv von Reinheit und ihrer vermeintlichen Bedrohung. Das Setting ihres Films ist ein automatisierter Bauernhof. Die zwischen nüchterner Materialität und magischer Aufladung changierenden Aufnahmen, die dort entstanden sind, spielen gleichzeitig mit einer Sexualisierung von Formen, die zwischen Euter, weiblicher Brust und männlichem Glied ungerichtet und uneindeutig bleiben.

Ästhetische Strategien der sexuellen Verunklärung, der Weigerung, sich einer sexuellen Linie zu fügen, durchziehen ein breites Spektrum von Positionen der Ausstellung über Generationsgrenzen hinweg. Sie finden sich in Rosemarie Trockels Herdplatten-Objekt Ma Fenêtre (2018), in dem die Verschränkung minimalistisch geprägter Formensprache mit der weiblich-besetzten Sphäre des Häuslichen als Witz auf Kosten stilistischer und sexueller „Genres“ auftritt. Ein ähnlicher Humor definiert auch Lee Lozanos großformatives „Tool painting“ (Untitled, 1964), in dem mit männlicher Produktivität assoziierte Objekte (Schrauben) einer Sexualisierung unterworfen werden, die nicht nur komisch ist, sondern sich klar definierbarer Geschlechtlichkeit entzieht. Ulrike Müllers Emaille-Malereien (Fever, 2010) dagegen zeigen wie (minimale) Verschiebungen in Material und Form unsere Wahrnehmung von Objekten destabilisieren können. In einem dichten Referenzfeld von geometrischer Abstraktion, kommerziellen Zeichensystemen, Haushaltsobjekten und einem klischeehaft feminisierten Repertoire an Formen und Farben verortet, provozieren und frustrieren Müllers Malereien die geschlechtsspezifische Semantik ihres Mediums und ringen ihr andere Begehren und andere Körper ab.

Dass Markierungen in Hinblick auf Geschlecht nicht von solchen in Hinblick auf „Rasse“ zu trennen sind, ist Grundlage von Betye Saars Assemblagen aus historischen Waschbrettern und weiblichen Figuren rassistischer Stereotype, die auf U.S amerikanischen Haushaltsprodukten zu finden sind (eine der bekanntesten ist die „Aunt Jemima“ Pfannkuchen-Marke). Saar eröffnet eine von der Linie des weißen und nahezu ausschließlich männlichen Projekts des Nouveau Realisme abweichende Genealogie der Assemblage-Form. In Ellen Gallaghers Collage-Arbeit DeLuxe (2004/2005) ist wiederum der Zusammenhang von Sexismus und Rassismus innerhalb einer Werbekultur zentral, die auf die Manipulation des schwarzen (Frauen)Körpers zielt.

Optimierung und Kontrolle einer auf den weiblichen Körper gerichteten Biopolitik stehen im Mittelpunkt von Teresa Burgas mehrteiliger Installation Perfil de la Mujer Peruana / Objeto-Estructura-Informe Antropométrico (1980) wie auch von Jenna Bliss Film Poison the Cure (2017). Während Burga vor dem Hintergrund einer Intensivierung des technologisch vermittelten Zugriffs auf Leben unterschiedliche Formen der Standarditisierung und Regulierung des (weiblichen) Körpers untersucht, nimmt Bliss dessen pharmakologische Regulierung und Kommodifizierung in den Blick.

Neben solchen zeitgenössischen und klassischen Positionen (darunter u.a. auch Gabriele Münter, Maria Lassnig, Lynda Benglis, Ellen Cantor, Barbara Hammer, Heji Shin), finden eine ganze Reihe von Ansätzen Berücksichtigung, die gewöhnlich nicht unter der Rubrik feministischer Kunst gefasst werden oder nie Teil ihres Kanons wurden. Dazu gehören Tony Cokes Dekonstruktion des medialen Kontinuums von Pop und Politik in Face Value (Kanye West) (2018), die kollektive Arbeit von Tim Rollins & K.O.S. und Constantina Zavitsanos / Park McArthurs Auseinandersetzung mit Fürsorge- und Tauschverhältnissen (Score for Before, 2013). Dazu gehören auch die heute fast gänzlich vergessene Objektkunst Irma Hünerfauths (Erste Liebe, 1973) und die Collagen der Berlinerin Alice Lex-Nerlinger (z.B. Arbeiten, Arbeiten, Arbeiten, 1928).

Die Ausstellungsstruktur von Querverbindungen und Wahlverwandtschaften entlang einer diachronischen Achse lädt Besucher*innen gleichzeitig dazu ein, eigene Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen Positionen herzustellen. Was passiert z.B., wenn man Claude Cahuns queere Selbstportraits der späten 1920er zusammen mit Leigh Ledares fotografischen Inszenierungen von Bildformeln des Biographischen oder Pornographischen (Personal Commissions, 2008) liest? Oder wenn man Kaas (2017), Diamond Stingilys Zopf aus Kanakalon-Haar (das v.a. für afro-amerikanische Haarstile verwendet wird) in ein Verhältnis zu den Seilen in Eva Hesses One More Than One (1967) setzt? Welche Affinitäten oder Kontinuitäten und welche Differenzen in Bezug auf Fragen von Begehren oder von Körperlichkeit und ihrer Markierung in Hinblick auf Geschlecht, „Rasse“, Klasse und Befähigung ergeben sich aus solchen Verknüpfungen?

Indem Straying from the Line ein Repertoire an Positionen präsentiert, die sich weder auf Frau-Sein beschränken lassen, noch auf eine historische, politische oder ästhetische Linie gebracht werden können, fragt die Ausstellung nicht zuletzt nach dem Potential der Kunst selbst, feministischen Tendenzen neue Bedeutungen und andere Formen zu geben.

Text Jenny Nachtigall
Translation Carina Bukuts