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„Schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch“ – diese berühmte Wendung des Dichters Comte de Lautréamont beschreibt einen zentralen Aspekt surrealistischer Kunsttheorie. Besonders in den fremdartigen und skurrilen Objekten und Skulpturen der Surrealisten manifestiert sich das Zusammenspiel von Gegensätzlichem, die „ver-rückte“ Wirklichkeit, die auf Unterbewusstes und Traumhaftes verweist. Zu ihrem 25-jährigen Bestehen stellt die Schirn mit rund 180 Werken von 51 Künstlerinnen und Künstlern ausschließlich die dreidimensionalen Objekte des Surrealismus vor, die noch nie umfassend präsentiert wurden. In der Ausstellung mit internationalen Leihgaben zeigt die Schirn vom 11. Februar bis 29. Mai 2011 sowohl Werke sehr populärer Künstler wie Duchamp, Magritte, Dalí, Picasso und Man Ray als auch vieler anderer Künstlerinnen und Künstler, deren attraktive und erstaunliche Arbeiten es für ein breites Publikum noch zu entdecken gilt. Viele der dreidimensionalen Werke aus der surrealistischen Epoche von 1925 bis 1945 wirken aus heutiger Perspektive kaum historisch, sondern im Gegenteil überraschend frisch und zeitgenössisch.

Die Ausstellung wird durch die Société Générale gefördert. Zusätzliche Unterstützung erfährt sie durch die Georg und Franziska Speyer’sche Hochschulstiftung.

Der gemeinsame Nenner surrealistischer Objekte ist weder ihre Herkunft noch die Arbeitsweise noch das verwendete Material, sondern ihre psychologische Wirkung, die Überraschung, der Schock und die gedankliche Veränderung, die das Werk im Betrachter provozieren sollte. „Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen“, schrieb André Breton 1924 im „Ersten Manifest des Surrealismus“. Beeinflusst durch die Theorien Sigmund Freuds strebten die Surrealisten danach, Vergessenes und Abgedrängtes im Menschen ans Tageslicht zu holen und in Kunst und Leben zu integrieren.

Die Ausstellung eröffnet mit einigen Objekten der vorausgegangenen Dada-Bewegung, die die Arbeitsweise der Surrealisten sowohl in Hinsicht auf die Ausstellungspraxis als auch auf die Objekte vorwegnahm. Von beiden Bewegungen wurde intensiv untersucht, was überhaupt ein Kunstobjekt sein kann. „Der wildgewordene Spießer Heartfield“ von George Grosz und John Heartfield formuliert zwar eine sehr viel direktere politische Kritik als die eher ironischen und poetischen Objekte der Surrealisten, ist jedoch in seiner Kombination aus völlig disparaten Gegenständen ein direkter Vorläufer surrealistischer Objektkunst.

Die Vorliebe der Surrealisten für das bewusst Unkünstlerische, Alltägliche, Banale, Grenzwertige, Vergessene, Verdrängte, Schmutzige und Abseitige führte dazu, dass nicht nur Künstler, sondern auch Dichter und Literaten in den 1930er-Jahren begannen, die Pariser Flohmärkte nach geeigneten Fundstücken zu durchsuchen. In einem solchen Akt des „objektiven Zufalls“ schufen sie eine Vielzahl von Objekten aus Geigen, Flaschen, Uhren, Besteck und anderen Erzeugnissen der Konsumwelt.

Eine wegweisende Ausstellung in der Galerie Ratton in Paris 1936 war erstmals ausschließlich den Objekten gewidmet. Man zeigte Gefundenes und Weiterverarbeitetes, Werke aus den unterschiedlichsten Materialien, die wir heute als Assemblagen bezeichnen würden. Doch mit Blick auf die Gipsplastiken von Max Ernst oder Alberto Giacometti in jener Ausstellung lässt sich feststellen, dass die Surrealisten den Begriff Objekt sehr weit fassten. Auch Skulpturen und Plastiken fielen darunter. Giacometti war der erste Künstler, der seine Arbeiten explizit als Objekte bezeichnete und damit vom Begriff Skulptur Abstand nahm.

In den spektakulären Ausstellungen der Surrealisten spielten die Objekte von den 1930er-Jahren bis zu Bretons Tod 1966 immer dann ein große Rolle, wenn es darum ging, die Grenzen zwischen Ausstellungs- und Erlebnisort zu verschieben, den Betrachter im Unklaren zu lassen, ob das Ding, mit dem er räumlich und körperlich konfrontiert wurde, ein Kunstwerk war oder etwas zum Benutzen, Berühren oder Verändern. Herkömmliche Ästhetik wurde negiert und damit ein Prozess in Gang gesetzt, von dem die Kunst heute noch profitiert. Er ist sozusagen zum Grundgerüst für künstlerische Strategien der Gegenwartskunst geworden.

Die Ausstellung in der Schirn dokumentiert auch erstmals die Rolle der Objekte in zahlreichen surrealistischen Gruppenausstellungen, so besonders in der berühmten „Exposition Internationale du Surréalisme“ im Jahr 1938, für die 16 Künstler jeweils eine Schaufensterpuppe gestaltet hatten. Die von Raoul Ubac und Denise Bellon fotografisch dokumentierten Mannequins zeugen von der Leidenschaft der Surrealisten für die Ikonografie der Puppe und geben die Lust an der Sexualisierung von Körpern durch surrealistische Methoden wie Kombinatorik, Verschleierung und Enthüllung wieder. Darüber hinaus rückt die Schirn weniger bekannte Aktionen wie die „Exposition inteRnatiOnale du Surréalisme“ (EROS) im Jahr 1959 in den Fokus. Für EROS entwarf Marcel Duchamp eine sich im Atemrhythmus hebende und senkende Decke, während Meret Oppenheim ihr berühmtes Festmahl auf dem nackten Körper eines Mannequins gestaltete.

Dass sich jedoch kein surrealistischer Stil definieren lässt, die Gruppe vielmehr als ein Kreis von Freunden und Gleichgesinnten mit dem theoretischen Kopf Breton bezeichnet werden kann, zeigt sich überdies an der großen Unterschiedlichkeit der Objekte in Material, Herkunft, Bearbeitung und Inhalt. Sie sprechen viele Aspekte des Körperlichen und damit ein Hauptthema des Surrealismus an, das in unterschiedlichsten Zusammenhängen gedeutet wurde: Die Puppen Hans Bellmers dürfen als eines der bekannteren Beispiele für die Fetischisierung des Objekts gelten. Mimi Parents Peitschenobjekt „Maitresse“ aus Frauenhaar und Leder oder Valentine Hugos roter Lederhandschuh „Objet à fonctionnement symbolique“ (1931) sind Teil der surrealistischen Auseinandersetzung mit den Schriften des Marquis de Sade. Ángel Ferrants Maschinenfrau „Maniquí“ (1946) hingegen verweist auf die Idee des mechanisierten Körpers, wohingegen Dalís „Venus von Milo mit Schubladen“ (1936/1964) der antikisierenden Darstellung verpflichtet ist. Daneben sind schwarzer Humor, Ironie und geistreicher Scherz, der immer mit kulturellen und philosophischen Kontexten spielt, im Surrealismus und besonders in der Objektkunst von großer Bedeutung. Viele Objekte entstammen dem Alltag und wurden so lange bearbeitet und umgeformt, bis sich ihre Bedeutung in etwas Fremdes verwandelt hat.

In den Objekten finden nicht nur alle Grundprinzipien surrealistischer Theorie wie Entfremdung, Kombinatorik und Metamorphose ihre Anwendung. Die Gegenstände eröffnen darüber hinaus neue Fragestellungen, die bis in die Gegenwartskunst ihren Nachhall finden. Bislang hat die kunsthistorische Forschung den Objekten nie mehr als ein kurzes Kapitel gewidmet, denn der Surrealismus bestand in künstlerischer Hinsicht zum großen Teil aus Prosa, Poesie, Collagen und Gemälden. Damit versteht sich die Ausstellung nicht nur als ein Beitrag zur Surrealismusforschung, sondern auch als eine Erweiterung unseres Blicks auf eines der faszinierendsten Kapitel der klassischen Moderne.

In der Zeit ihres 25-jährigen Bestehens hat die Schirn sich wiederholt mit der Kunst des Surrealismus auseinandergesetzt. 1989 fand die große Überblicksausstellung „Die Surrealisten“ statt. Im darauffolgenden Jahr thematisierte die Ausstellung „Das Wort-Bild in Dada und Surrealismus“ die Originalität und Bedeutungsvielfalt der berühmten Wortbilder. Es folgten monografische Ausstellungen zu Alberto Giacometti, Man Ray und René Magritte. Mit der großen Jubiläumsausstellung „Surreale Dinge. Skulpturen und Objekte von Man Ray bis Dalí“ setzt die Schirn diese Reihe fort und betont erstmals die herausragende Rolle der dreidimensionalen Werke für diese Kunstrichtung.